Gesellschaftsrecht Insolvenzen und Restrukturierungen

Kardinalpflichten von Geschäftsleitern – echter Paukenschlag oder viel Lärm um Nichts?

Verfasst von

Dr. Georg Haas

Dieser Beitrag ist Bestandteil unserer Reihe zur Organhaftung. Zuletzt ist am 21. März 2025 der Beitrag „Geschäftsleiterpflichten nach § 1 StaRUG: Entwurf eines IDW-Standards zur Ausgestaltung der Krisenfrüherkennung und des Krisenmanagements“ erschienen.

In einem aktuellen Urteil setzt das OLG Frankfurt/M. einen noch jungen Trend in der obergerichtlichen Rechtsprechung fort, sog. „Kardinalpflichten“ von Geschäftsleitern anzuerkennen. Diese im Gesellschaftsrecht unbekannte Rechtsfigur hat potenziell erhebliche Auswirkungen auf den D&O-Versicherungsschutz und spielt in der Praxis vor allem bei Insolvenz eine Rolle. Die Rechtsprechung zur Kardinalpflicht(verletzung) begegnet verschiedentlicher Kritik; eine höchstrichterliche Entscheidung steht noch aus.

Das Urteil

Der Sachverhalt und die Entscheidungsgründe des Urteils des OLG Frankfurt/M. vom 5. März 2025 (Az. 7 U 134/23) sind kurz, aber inhaltlich dicht.

Der Insolvenzverwalter einer UG begehrte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Klage auf Feststellung der Leistungspflicht des D&O-Versicherers. Der eingetragene Geschäftsführer fungierte nur als Strohmann; tatsächlich geführt wurden die Geschäfte von einem faktischen Geschäftsführer. Die Gesellschaft war immer weiter in wirtschaftliche Schieflage und letztlich in Zahlungsunfähigkeit geraten. Der (Strohmann-)Geschäftsführer gab an, sich nicht regelmäßig über die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft informiert zu haben; entsprechend stellte der den Insolvenzantrag verspätet. Der beklagte D&O-Versicherer lehnte eine Leistungspflicht mit Verweis auf den Ausschluss des Versicherungsschutzes bei wissentlicher Pflichtverletzung ab.

Das OLG Frankfurt/M. hielt den D&O-Versicherer für leistungsfrei. Dieser könne sich auf den Risikoausschluss der wissentlichen Pflichtverletzung gem. Ziffer A.6 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung von Unternehmensleitern und Leitenden Angestellten (ULLA) berufen. Insoweit sei der Vortrag zusätzlicher Indizien durch den darlegungs- und beweisbelasteten D&O-Versicherer entbehrlich, wenn es sich um die Verletzung elementarer beruflicher Pflichten handele, deren Kenntnis nach der Lebenserfahrung bei jedem Berufsangehörigen vorausgesetzt werden könne.

Hier habe der (Strohmann-)Geschäftsführer eine solche Kardinalpflicht verletzt, da er bei Eintritt der Insolvenzreife keinen Insolvenzantrag gestellt und die Geschäfte weitergeführt habe. Gleichsam als Kern seiner Entscheidung stellt das Gericht fest:

„Die Insolvenzantragspflicht nach Eintritt der Insolvenzreife ist eine Kardinalpflicht.“

Denn § 15a Abs. 1 Satz 1 InsO stelle eine der wesentlichen gläubigerschützenden Vorschriften dar, deren Bedeutung schon die strafrechtliche Sanktion in § 15a Abs. 4 InsO betone. Die allgemein anerkannte, der Insolvenzantragspflicht vorgelagerte und in diese nahtlos übergehende Pflicht zur Krisenfrüherkennung und zum Krisenmanagement bei haftungsbeschränkten Unternehmensträgern habe schon vor Inkrafttreten des § 1 Abs. 1 StaRUG aus § 43 Abs. 1 GmbHG bestanden (vgl. hierzu unseren Beitrag „Geschäftsleiterpflichten nach § 1 StaRUG: Entwurf eines IDW-Standards zur Ausgestaltung der Krisenfrüherkennung und des Krisenmanagements“).

Grundsätzlich setze die Annahme einer Kardinalpflichtverletzung voraus, dass die von dem Versicherten verletzte Norm zu den zentralen, fundamentalen Grundregeln einer bestimmten Regelungsmaterie gehört. Zu solchen Kardinalpflichten, in denen vom äußeren Geschehensablauf und dem Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes auf innere Vorgänge geschlossen werden kann, zählen nach Ansicht des Gerichts auch die Pflichten eines Vorstands, Geschäftsführers, Aufsichtsrats oder leitenden Angestellten,

  • weder sich noch Dritten aus dem Unternehmensvermögen Vorteile zu gewähren, auf die kein Anspruch besteht,
  • das Unternehmensvermögen nicht für unternehmensfremde Zwecke zu verwenden, sowie
  • die Vergewisserung über die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft sowie die eingehende Prüfung der Insolvenzreife und, auf dieser Grundlage, die Pflicht, bei Insolvenzreife rechtzeitig Insolvenzantrag zu stellen.

Wenn der Unternehmensleiter erkenne, dass die Gesellschaft zu einem bestimmten Stichtag nicht in der Lage sei, ihre fälligen Verbindlichkeiten zu erfüllen, habe er die Zahlungsunfähigkeit anhand einer Liquiditätsbilanz zu überprüfen. Erhebliche, wiederkehrende Rückstände über einen langen Zeitraum hin deuteten für jedermann erkennbar auf eine massive wirtschaftliche Krise hin. Organmitgliedern, die „blind in die Krise segeln“ sei deckungsrechtlich die Verletzung einer Kardinalpflicht vorzuwerfen. Die offensichtliche Pflichtverletzung rechtfertige den Schluss auf das Vorliegen einer wissentlichen Pflichtverletzung. Im Streitfall hätten zudem objektive Kriterien vorgelegen, die aus Sicht des Geschäftsführers auf eine Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit hätten schließen lassen müssen.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage hat das OLG Frankfurt/M. die Revision zugelassen, die beim BGH unter dem Az. IV ZR 66/25 anhängig ist.

Einordnung und Praxisfolgen

Mit seinem Urteil schließt sich das OLG Frankfurt/M. dem OLG Köln an, das die Insolvenzantragspflicht, die Pflicht zur Vergewisserung über die wirtschaftliche Lage und die Verpflichtung zur eingehenden Prüfung der Insolvenzreife ebenfalls als Kardinalpflichten mit entsprechenden Auswirkungen auf den D&O-Versicherungsschutz ansah (Urteil vom 16. November 2021, Az. 9 U 253/20).

Die Rechtsprechung zur Kardinalpflicht(verletzung) begegnet jedoch grundsätzlicher Kritik (ausführlich u.a. Isenbart, DB 2025, 1604). So wird angeführt, das Gesellschaftsrecht kenne keine Unterscheidung zwischen „normalen“ und „elementaren“ Pflichten der Geschäftsleiter. Anders als im Bereich der Berufshaftpflichtversicherung (bspw. der Architekten, Rechtsanwälte, Anlageberater), der die Rechtsfigur der Kardinalpflicht entnommen ist, gebe es gerade kein einheitliches Berufsbild und Standardwissen für Geschäftsleiter.

Zudem sei gerade bei der Insolvenzantragspflicht der Schluss vom Kennenmüssen der Pflicht und deren objektiver Verletzung auf das erforderliche Wissen um die Verletzung der Pflicht fragwürdig, auch weil für eine lediglich fahrlässige Pflichtverletzung (vgl. § 15a Abs. 5 InsO) kein Raum bliebe. Auch setzten sowohl das OLG Köln als auch das OLG Frankfurt/M. unzulässigerweise das Zahlungsverbot nach Insolvenzreife (§ 15b InsO) mit der Verletzung der Insolvenzantragspflicht (§ 15a InsO) gleich.

Die praktischen Auswirkungen der Rechtsprechung zur Kardinalpflicht(verletzung) sind potenziell erheblich, weil sie die Darlegungs- und Beweislast im Zusammenhang mit dem Vorwurf der wissentlichen Pflichtverletzung zugunsten der D&O-Versicherer verschiebt und damit den Versicherungsschutz faktisch reduziert. Allerdings zogen sowohl das OLG Köln als auch das OLG Frankfurt/M. für die Begründung der wissentlichen Pflichtverletzung zahlreiche weitere Indizien heran, sodass die Feststellung einer Kardinalpflichtverletzung keinen Automatismus für die Wissentlichkeit der Handlungen und damit die Leistungsfreiheit des Versicherers bedeutet (treffend Isenbart, DB 2025, 1604, 1605 f.).

Vor diesem Hintergrund darf die Entscheidung des BGH über die Revision gegen das Urteil des OLG Frankfurt/M. mit Spannung erwartet werden. In jedem Fall kann die zureichende Ausgestaltung der Krisenfrüherkennung und des Krisenmanagements zwecks rechtzeitiger Erfüllung der insolvenzrechtlichen Pflichten – gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten – kaum überschätzt werden.