Gesellschaftsrecht

Satzungsdurchbrechende Gesellschafterbeschlüsse bei der GmbH

Verfasst von

Dr. Thomas Wenninger, LL.M. (GWU)

Alexander Schmidt

Unter einem satzungsdurchbrechenden Beschluss wird ein Gesellschafterbeschluss verstanden, der zwar der Satzung widerspricht, diese aber nicht ändern soll. Satzungsdurchbrechende Beschlüsse werfen diverse Rechtsfragen auf, die noch immer kontrovers diskutiert werden. Der folgende Beitrag zeigt die zentralen Probleme auf und geht dabei auch auf das Urteil des BGH vom 16. Juli 2024 in der Rechtssache „Kind“ ein (Az. II ZR 71/23).

1. Einführung

1.1. Einordnung satzungsdurchbrechender Gesellschafterbeschlüsse

Das GmbH-Gesetz enthält keine Regelungen zum Umgang mit satzungsdurchbrechenden Gesellschafterbeschlüssen. Es ist deshalb unklar, wie satzungsdurchbrechende Beschlüsse dogmatisch eingeordnet werden müssen. In der Literatur diskutiert wird etwa eine Einordnung als Satzungsverletzung, als klassische oder gegebenenfalls im Wege der Rechtsfortbildung privilegierte Satzungsänderung, als Beschluss mit Doppelinhalt aus beschlossener Maßnahme und ad hoc-Änderung der Satzung oder als eigenständige Beschlusskategorie. Teilweise wird auf eine dogmatische Einordnung auch verzichtet und die Diskussion wird auf die Rechtsfolgen beschränkt.

1.2. Wirksamkeit von Satzungsdurchbrechungen nach bisher h.M.

Nach der h.M. ist zu unterscheiden, ob ein satzungsdurchbrechender Gesellschafterbeschluss punktuellen oder zustandsbegründenden Charakter hat.

Eine zustandsbegründende Satzungsdurchbrechung soll unwirksam sein, wenn sie nicht alle gesetzlichen Anforderungen an eine Satzungsänderung erfüllt, insbesondere die notarielle Beurkundung des Beschlusses und die Eintragung im Handelsregister. Demgegenüber können punktuelle Satzungsdurchbrechungen auch ohne Registeranmeldung wirksam sein, wobei hinsichtlich der übrigen formalen Anforderungen unterschiedliche Ansichten vertreten werden.

Um eine punktuelle Satzungsdurchbrechung handelte es sich nach der bisher h.M. dann, wenn die Satzungsdurchbrechung sich im Idealfall bereits mit dem Beschluss erledigt. Dagegen sollte eine zustandsbegründende Satzungsdurchbrechung vorliegen, wenn durch den Beschluss ein satzungswidriger Dauerzustand geschaffen wurde. Die Einordnung von Einzelfällen erwies sich dabei regelmäßig als schwierig, weil nahezu jeder Gesellschafterbeschluss auch Folgewirkungen hat. Zur Abgrenzung wurde in der Vergangenheit teilweise auf die zeitliche Dauer des satzungswidrigen Zustands abgestellt, ohne dass insoweit verlässliche Kriterien vorlagen. Die Differenzierung zwischen punktueller und zustandsbegründender Satzungsdurchbrechung war in der Praxis daher schwierig bis unmöglich.

2. Das Urteil des BGH in Sachen „Kind“

2.1 Sachverhalt

In dem vom BGH entschiedenen Fall „Kind“ (Az. II ZR 71/23) hatte der Alleingesellschafter einer GmbH in einer außerordentlichen Gesellschafterversammlung den Geschäftsführer durch notariell beurkundeten Beschluss aus wichtigem Grund abberufen, obwohl die Satzung der GmbH die Zuständigkeit für die Bestellung und Abberufung von Geschäftsführern dem Aufsichtsrat zuwies. Der Geschäftsführer begehrte die Feststellung der Nichtigkeit des Abberufungsbeschlusses.

2.2 Die Entscheidung des BGH

In seinem Urteil bestätigte der BGH, dass Satzungsdurchbrechungen, die einen punktuellen Einzelfall regeln, auch ohne Einhaltung der formalen Voraussetzungen an eine Satzungsänderung wirksam sein können. Dagegen seien Satzungsdurchbrechungen, die einen vom Gesellschaftsvertrag abweichenden rechtlichen Dauerzustand begründen, nichtig, wenn nicht alle für Satzungsänderungen geltenden Formvorschriften eingehalten werden.
Die im Fall „Kind“ erfolgte Abberufung durch die unzuständige Gesellschafterversammlung begründete aus Sicht des BGH keinen vom Gesellschaftsvertrag abweichenden (Dauer-)Zustand. Die Satzungsdurchbrechung habe sich spätestens mit der Bekanntgabe an den Geschäftsführer erledigt. So hätte der Geschäftsführer seine Organstellung auch verloren, wenn er in Übereinstimmung mit der Satzung abberufen worden wäre. Ein satzungswidriger Zustand sei mithin nicht begründet worden.

Die Notwendigkeit der Einhaltung der formalen Anforderungen einer Satzungsänderung könne auch nicht mit der Registerpublizität begründet werden. Es fehle insoweit an einem schutzwürdigen Interesse des Rechtsverkehrs. So informiere das Register allenfalls darüber, dass die Gesellschafterversammlung einmalig gegen die satzungsmäßige Kompetenzordnung verstoßen habe. Die Registerpublizität schütze aber nicht das Vertrauen in den Umstand, dass die bisherigen Beschlüsse satzungskonform erfolgt sind.

Im Ergebnis sah der BGH die Abberufung des Geschäftsführers somit als wirksame, da rein punktuell wirkende Satzungsdurchbrechung an.

3. Erkenntnisse aus dem Urteil und weiterhin offene Fragen

3.1 Zur rechtlichen Einordnung der Satzungsdurchbrechung

Der BGH hat die Unterscheidung von punktuell wirkenden und zustandsbegründenden Satzungsdurchbrechungen bestätigt. Ausführungen zur dogmatischen Einordnung von Satzungsdurchbrechungen enthält das Urteil nicht. Aus der Tatsache, dass der BGH für zustandsbegründenden Satzungsdurchbrechungen die Einhaltung sämtlicher Voraussetzungen einer Satzungsänderung fordert, wird in der Literatur teilweise gefolgert, dass der BGH sie einer Satzungsänderung gleichsetzt. Gestützt wird diese Ansicht durch die Kommentierung von Born zu § 53 GmbHG im Beck’schen Online-Kommentar. Born ist Vorsitzender Richter des II. Zivilsenats des BGH, so dass seine Kommentierung Rückschlüsse auf die Auffassung des erkennenden Senats zulässt.

Punktuell wirkende Satzungsdurchbrechungen stehen einer Satzungsänderung nach Auffassung des BGH dagegen nicht gleich. Sie können deshalb auch ohne Einhaltung der Voraussetzungen für eine Satzungsänderung wirksam sein. Allerdings hat der VIII. Zivilsenat punktuell satzungsdurchbrechende Beschlüsse als anfechtbar angesehen (Urteil vom 28.09.2022, Az. VIII R 20/20), worauf auch Born in seiner Kommentierung hinweist. Dies spricht dafür, entsprechende Gesellschafterbeschlüsse dogmatisch als Satzungsverletzung und nicht als eigenständige Beschlusskategorie einzuordnen.

Im Ergebnis erscheint es sinnvoll, satzungsdurchbrechende Gesellschafterbeschlüsse als Satzungsverletzung oder aber – bei Schaffung eines „Dauerzustands“ – als (materielle) Satzungsänderung zu verstehen. Die Einführung einer weiteren, gesetzlich nicht vorgesehenen Beschlusskategorie ist damit obsolet.

3.2 Abgrenzung punktueller von zustandsbegründenden Satzungsdurchbrechungen

Besondere Beachtung erfahren haben die vom BGH aufgestellten Kriterien zur Abgrenzung punktuell wirkender von zustandsbegründenden Satzungsdurchbrechungen.

Der BGH differenziert zwischen dem satzungswidrigen Zustandekommen eines Beschlusses (Kompetenzverstoß), welches unmittelbar mit der Beschlussfassung endet, und den Beschlussfolgen, welche unter Umständen auch satzungskonform herbeigeführt werden könnten. Als Satzungsdurchbrechung wurde in der Rechtssache „Kind“ allein das Zustandekommen des Beschlusses, nicht aber die fortwirkende Abberufung des Geschäftsführers angesehen.

Daraus wird in der Literatur teilweise gefolgert, dass für die Abgrenzung von punktuell wirkenden und zustandsbegründenden Satzungsdurchbrechungen künftig zwischen der Satzungsdurchbrechung als solcher und den auch ohne diese eintretenden Beschlussfolgen unterschieden werden müsse. Dies stellt eine deutliche Abweichung zur bisher h.M. dar, welche den Begriff der Zustandsbegründung deutlich weiter fasste. Dem ist insoweit zuzustimmen, als nicht jeder satzungswidrig – insbesondere unter Verstoß gegen die Kompetenzordnung – gefasste Beschluss automatisch den hieraus resultierenden Zustand als satzungswidrig „infiziert“. Die vom BGH vorgenommene Differenzierung erleichtert den Umgang mit satzungswidrig zustande gekommenen Beschlüssen erheblich.

Ist im Umkehrschluss jeder gegen die Satzung verstoßende, fortwirkende Beschlussgegenstand als zustandsbegründende Satzungsdurchbrechung zu werten? Born scheint dies nicht in derart strikter Form zu vertreten. A.a.O. führt er aus, dass bei der zustandsbegründenden Satzungsdurchbrechung ein von der Satzung abweichender rechtlicher Dauerzustand geschaffen werde. Insoweit werde dauerhaft – gegebenenfalls auch befristet – neben der Satzung eine „Schattensatzung nach Beschlusslage“ geschaffen. Dagegen beschränke sich eine punktuell wirkende Satzungsdurchbrechung auf eine punktuelle Regelung, bei der sich die Wirkung des Beschlusses in der jeweiligen Maßnahme erschöpft. Entscheidend sei für die Abgrenzung somit, dass bei punktuellen Satzungsdurchbrechungen nur ein Einzelfall in Abweichung von der Satzung beschlossen wird. Der Satzung wird also nicht für die Zukunft generell eine andere Form oder ein anderer Inhalt gegeben. Nach Ansicht von Born wenig problematisch ist etwa die Bestellung von Geschäftsführern oder Aufsichtsratsmitgliedern unter Verstoß gegen satzungsmäßige Auswahlkriterien, obwohl hier, anders als im vom BGH entschiedenen Fall, auch der durch den Beschluss geschaffene Zustand fortbesteht. Hinsichtlich der Modifizierung von Gewinn- oder Stimmrechten für bestimmte Gesellschafter, der Befreiung von Wettbewerbsverboten oder den Beschränkungen des § 181 BGB usw. ist nach Auffassung von Born danach zu unterscheiden, ob diese tatsächlich nur punktuell wirken, also z.B. nur für ein bestimmtes Geschäft beschlossen wurden, oder für die (zeitlich begrenzte) Zukunft eine generelle Regelung darstellen.

Im Ergebnis wird man folglich im ersten Schritt danach fragen müssen, ob durch den Beschluss ein satzungswidriger Zustand mit Zukunftswirkung geschaffen wird. Bejahendenfalls ist zu klären, ob lediglich eine punktuell wirkende oder aber eine generelle (gegebenenfalls befristete) Satzungsabweichung beschlossen wurde. Diese Abgrenzung dürfte in der Praxis weiterhin zu Unsicherheiten führen.

3.3 Formale Anforderungen bei punktueller Satzungsdurchbrechung

Der BGH verweist in der Sache „Kind“ auf seine bestehende Rechtsprechung, wonach punktuell satzungsdurchbrechende Gesellschafterbeschlüsse ohne Einhaltung der formalen Voraussetzungen einer Satzungsänderung möglich sind. Ob damit alle oder nur bestimmte formale Voraussetzungen für verzichtbar erklärt werden, hat der BGH offengelassen. Dass der BGH bei zustandsbegründenden Satzungsdurchbrechungen die Erfordernisse der notariellen Beurkundung gemäß § 53 Abs. 3 GmbHG und die Anmeldung zur Eintragung im Handelsregister gemäß § 54 GmbHG betont, lässt allerdings den Schluss zu, dass diese beiden Anforderungen bei punktuellen Satzungsdurchbrechungen nicht zwingend eingehalten werden müssen (so auch Born a.a.O.).

Mit der Frage, welche Beschlussmehrheit für eine wirksame punktuelle Satzungsdurchbrechung erforderlich ist, musste sich der BGH im Urteil vom 16. Juli 2024 nicht beschäftigen, da es nur einen Gesellschafter gab und der Abberufungsbeschluss somit einstimmig gefasst wurde. Die Ansichten in der Literatur reichen von der einfachen Mehrheit bis zur Einstimmigkeit. Born (a.a.O.) vertritt die vermittelnde Ansicht, wonach auch für punktuelle Satzungsdurchbrechungen eine ¾ Mehrheit gemäß § 53 Abs. 2 Satz 1 GmbHG erforderlich ist, weil die Satzung – wie bei der Satzungsänderung – zur Disposition der Gesellschafter gestellt wird. Dies erscheint sachgerecht, da der Minderheitenschutz so gegenüber einer Satzungsänderung nicht zurückfällt. Umgekehrt wäre es nicht einsichtig, warum Minderheitsgesellschafter im Falle der punktuellen Satzungsdurchbrechung besser geschützt werden sollten als bei einer Satzungsänderung.

3.4 Anfechtbarkeit von punktuell satzungsdurchbrechenden Gesellschafterbeschlüssen

Da der Gesellschafterbeschluss einstimmig gefasst wurde, musste der BGH in der Rechtssache „Kind“ auch nicht dazu Stellung nehmen, ob punktuell satzungsdurchbrechende Beschlüsse anfechtbar sind, denn Gesellschafter, die einem Beschluss zugestimmt haben, sind nach allgemeinen Grundsätzen nicht anfechtungsberechtigt. Die Anfechtbarkeit eines Beschlusses entfällt somit, wenn alle Gesellschafter zugestimmt haben. Allerdings hat der BGH die grundsätzliche Anfechtbarkeit eines satzungsdurchbrechenden Beschlusses, in Übereinstimmung mit der h.M., in einem anderen Urteil bereits bejaht (siehe oben). 

4. Fazit

Auch nach dem Urteil des BGH in der Rechtssache „Kind“ bleiben im Zusammenhang mit satzungsdurchbrechenden Gesellschafterbeschlüssen Fragen offen. Hervorzuheben ist, dass der BGH die grundsätzliche Differenzierung zwischen punktueller und zustandsbegründender Satzungsdurchbrechung bestätigt hat. Es ist darauf abzustellen, ob eine punktuelle Einzelfallregelung vorliegt oder aber die Geltung der Satzung auch mit Wirkung für die Zukunft infrage gestellt ist. Zu begrüßen ist ferner der neue Ansatz, das Zustandekommen des Gesellschafterbeschlusses isoliert von dem durch den Beschluss geschaffenen Rechtszustand zu beurteilen. In formeller Hinsicht kann festgehalten werden, dass punktuell satzungsdurchbrechende Beschlüsse einer ¾ Mehrheit bedürfen. Eine notarielle Beurkundung ist ebenso entbehrlich wie die Eintragung im Handelsregister.