Gesellschaftsrecht Insolvenzen und Restrukturierungen

Geschäftsführerhaftung im Zusammenhang eines Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung

Verfasst von

Dr. Thorsten Ehrhard

Das Oberlandesgericht Brandenburg hat in seiner Entscheidung vom 9. April 2025 (Az.: 4 U 144/23) sehr ausführlich die Grenzen der unternehmerischen Entscheidungsfreiheit aufgezeigt. Der Fall ist im interessanten Grenzbereich von öffentlichem Wirtschaftsrecht, Gesellschaftsrecht und Insolvenzrecht verortet und betrifft die komplexe Fallgestaltung der Geschäftsführerhaftung im Kontext eines Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung.

I. Sachverhalt 

Der Beklagte war Geschäftsführer einer GmbH, die als kommunales Energieversorgungsunternehmen die Versorgung von örtlichen Unternehmen und Privathaushalten mit Gas und Elektroenergie betrieb. Alleiniger Geschäftsführer der GmbH war der Beklagte, der im Zeitraum von Januar 2019 bis November 2021 tätig war. Im Zuge der Neustrukturierung der Energiebeschaffung beauftragte die GmbH einen externen Energiedienstleister mit Dienstleistungen im Portfoliomanagement. Der Beklagte veranlasste zudem die Erstellung eines Risikomanagementhandbuchs zur Strombeschaffung, das ein Risikokapital von 75.000 € vorsah. Entscheidend für den Rechtsstreit wurden jedoch die vom Beklagten im März und Juni 2021 getätigten sogenannten Strom-Leerverkäufe bei einem Handelspartner. Dabei handelte es sich um hochspekulative Termingeschäfte, bei denen die GmbH Lieferverpflichtungen für Strommengen einging, die noch nicht beschafft waren und bei denen der Beklagte auf fallende Strompreise spekulierte. Die Leerverkäufe im Juni 2021 erreichten ein Volumen, das den gesamten Jahresbedarf der GmbH um ein Vielfaches überstieg, und wurden zu deutlich höheren Preisen abgeschlossen als die vorherigen Geschäfte. Die Spekulation ging jedoch auf, da die Strompreise entgegen den Erwartungen des Beklagten weiter anstiegen. Dies führte zu Rückstellungen in Höhe von über 31 Mio. €, die das Eigenkapital der GmbH erheblich überstiegen und schließlich zur Insolvenzantragstellung im Dezember 2021 führten. Das Insolvenzverfahren über das Vermögen der GmbH wurde im März 2022 in Eigenverwaltung eröffnet, und der Kläger wurde zum Sachwalter bestellt. Nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens im Dezember 2023 machte der Kläger als Zessionar der abgetretenen Ansprüche Schadensersatzansprüche gegen den ehemaligen Geschäftsführer geltend.

II. Die wesentlichen Aussagen des Gerichts

Das Oberlandesgericht Brandenburg hat in seiner Entscheidung mehrere grundlegende Rechtsfragen entschieden:

1. Prozessuale Fragen

a) Zulässigkeit der Klageänderung: Das Gericht bejahte die Zulässigkeit der Klageänderung vom Sachwalter zum Zessionar nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens. Die Umstellung stelle einen Parteiwechsel auf Klägerseite dar, der sachdienlich sei, da sie den sachlichen Streitstoff ausräume und einem weiteren Rechtsstreit vorbeuge. Die Abtretung der Ansprüche unter aufschiebender Bedingung der Aufhebung des Insolvenzverfahrens wurde als wirksam angesehen.

b) Aktivlegitimation und Prozessführungsbefugnis: Das Gericht stellte klar, dass die Zustimmung der Gesellschafterversammlung gemäß § 46 Nr. 8 GmbHG zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegen einen ausgeschiedenen Geschäftsführer in Insolvenzfällen entbehrlich sei. Dies gelte nicht nur bei eröffnetem Insolvenzverfahren, sondern auch bei masseloser Liquidation und bei Verfahren in Eigenverwaltung, da die Interessen der Gläubiger Vorrang genießen.

2. Materielle Rechtsfragen

a) Geschäftsführerhaftung nach § 43 Abs. 2 GmbHG: Das Gericht bejahte eine Pflichtverletzung des Geschäftsführers in mehrfacher Hinsicht:

  • Verstoß gegen unternehmerische Sorgfaltspflicht: Die getätigten Leerverkäufe stellten keine ordnungsgemäße Unternehmensleitung dar. Sie entsprachen nicht dem Unternehmenszweck der sicheren und preisstabilen Energieversorgung und waren reine Spekulationsgeschäfte.
  • Unzureichende Informationsgrundlage: Der Beklagte hatte die Entscheidung nicht auf einer sorgfältig ermittelten Entscheidungsgrundlage getroffen. Er hatte sich im Wesentlichen nur auf die Marktbeobachtung der vergangenen Jahre gestützt, ohne die vertraglich gebundene Expertise des Energiedienstleisters einzufordern.
  • Überschreitung des unternehmerischen Ermessensspielraums: Die Geschäfte überschritten die Grenzen der Business Judgement Rule. Bei jedem der Leerverkäufe war die Gefahr eines Verlustes wahrscheinlicher als die Aussicht auf Gewinn, und das Verlustrisiko war unbegrenzt.
  • Fehlende Risikobegrenzung: Das Fehlen jeglicher Maßnahmen zur Risikobegrenzung (wie Stop-Loss-Order) wurde als schwerwiegender Sorgfaltspflichtverstoß gewertet.

b) Kein Ausschluss der Haftung: Das Gericht verneinte verschiedene Haftungsausschlussgründe:

  • Kein Einverständnis der Gesellschafterin: Ein wirksames Einverständnis mit den riskanten Geschäften lag nicht vor. Die von dem Beklagten behauptete Information des Bürgermeisters der Gesellschafterin der GmbH während eines Spaziergangs reichte nicht aus.
  • Keine Haftungsprivilegierung: Die Grundsätze der innerbetrieblichen Organhaftung gelten nicht für Geschäftsführer im Bereich ihrer organschaftlichen Verantwortung.
  • Kein Mitverschulden: Ein Mitverschulden der Gesellschaft oder anderer Organe schließt die Haftung des Geschäftsführers nicht aus, da die Pflichten der Organe nebeneinander bestehen.

c) Strafrechtliche Untreue (§ 266 StGB) als Schutzgesetzverletzung: Das Gericht bejahte zusätzlich eine Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 266 StGB. Der Beklagte habe seine Befugnis, über das Vermögen der GmbH zu verfügen, missbraucht und dabei bedingten Vorsatz verwirklicht. Die hochspekulativen Geschäfte mit unbegrenztem Verlustrisiko, die den Unternehmenszweck verfehlten und die Existenz der Gesellschaft gefährdeten, erfüllten den Tatbestand der Untreue.

III. Praktische Konsequenzen der Entscheidung

Die Entscheidung des OLG Brandenburg verdient aus rechtswissenschaftlicher Sicht besondere Beachtung, da sie mehrere praxisrelevante Fragen des Gesellschafts- und Insolvenzrechts klärt und dabei in der Rechtsprechungstendenz bestätigt, zugleich aber präzisierend wirkt.

1. Zur Prozessführungsbefugnis in Insolvenzfällen

Die Ausführungen des Gerichts zur Prozessführungsbefugnis des Sachwalters und deren Übergang nach Verfahrensaufhebung stehen in Einklang mit der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung. Die Klarstellung, dass § 46 Nr. 8 GmbHG in Insolvenzfällen nicht anwendbar ist, folgt konsequent aus dem Vorrang der Gläubigerinteressen in der Krise. Dies entspricht der teleologischen Reduktion der Norm, die in der Insolvenz ihrer ursprünglichen Funktion der Opportunitätskontrolle beraubt wird. Praktisch bedeutet dies eine erhebliche Erleichterung für die Durchsetzung von Haftungsansprüchen, da die oft mühsame Ermittlung und Einholung von Gesellschafterbeschlüssen entfällt.

2. Zur Business Judgement Rule im Energiemarkt

Besonders bemerkenswert ist die präzise Anwendung der Business Judgement Rule auf hochspekulative Geschäfte im Energiemarkt. Das Gericht macht deutlich, dass die Business Judgement Rule keine Lizenz für unverantwortliches Risikoverhalten darstellt. Die Entscheidung betont zu Recht, dass unternehmerische Entscheidungen auf einer angemessenen Informationsgrundlage beruhen müssen und dass der Beurteilungsspielraum dort endet, wo die Geschäfte nicht mehr dem Unternehmenszweck dienen oder existenzgefährdende Risiken eingehen.

Die Ablehnung der Haftungsprivilegierung für Geschäftsführer entspricht der ständigen Rechtsprechung des BGH und wird in der Literatur überwiegend gebilligt. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass Geschäftsführer im Gegensatz zu Arbeitnehmern das unternehmerische Risiko selbst zu tragen haben und nicht auf Kosten der Gläubiger spekulieren dürfen.

3. Zur strafrechtlichen Untreue in Wirtschaftskrisen

Die Annahme einer strafbaren Untreue in diesem Fall zeigt die Tendenz der Rechtsprechung, wirtschaftliches Fehlverhalten in Krisensituationen verstärkt strafrechtlich zu sanktionieren. Die Ausführungen zur Billigung in Kauf genommenen Vermögensgefährdung sind besonders beachtlich, da sie die subjektive Tatseite der Untreue präzisieren. Das Gericht erkennt zu Recht, dass bedingter Vorsatz auch dann vorliegen kann, wenn der Handelnde aus persönlichen Motiven (wie hier die Verbesserung des eigenen Renommees) existenzgefährdende Risiken eingeht.

4. Praktische Konsequenzen für die Unternehmenspraxis

Die Entscheidung hat weitreichende praktische Konsequenzen:

a) Risikomanagement: Unternehmen müssen ihre Risikomanagementsysteme erheblich verstärken. Insbesondere im Energiehandel sind klare Risikolimits und deren Überwachung unverzichtbar. Das Urteil zeigt, dass formale Risikohandbücher allein nicht ausreichen, wenn sie nicht in der Praxis umgesetzt werden.

b) Geschäftsführerhaftung: Geschäftsführer müssen sich bewusst sein, dass die Business Judgement Rule keinen Schutz vor Haftung bietet, wenn Entscheidungen nicht auf sorgfältiger Information beruhen oder existenzgefährdende Risiken eingehen. Dies gilt insbesondere für spekulative Geschäfte, die den Kernzweck des Unternehmens verfehlen.

c) Insolvenzverfahren: In Insolvenzfällen wird die Durchsetzung von Haftungsansprüchen erleichtert. Die Notwendigkeit von Gesellschafterbeschlüssen entfällt, was die Effizienz der Insolvenzabwicklung erhöht.

d) Compliance: Unternehmen müssen ihre Compliance-Systeme so gestalten, dass hochriskante Geschäfte frühzeitig erkannt und gestoppt werden. Die Entscheidung zeigt, dass Aufsichtsgremien ihre Kontrollfunktion ernst nehmen müssen, um nicht selbst in Haftung zu geraten.
Zusammenfassend handelt es sich um eine fundierte Entscheidung, die die Grenzen unternehmerischer Handlungsfreiheit präzisiert und die Bedeutung sorgfältiger Unternehmensführung in Krisenzeiten betont. Wir unterstützen mit unseren Expertinnen und Experten auf Grundlage unserer langjährigen Erfahrung in den Bereich des Risikomanagements, der Vermeidung von Organhaftungen und der Compliance und stehen auch Ihnen gerne zur Verfügung.