Wegfall der kalenderjährlichen Hinzuverdienstgrenzen für vorgezogene Altersrenten und Anhebung der kalenderjährlichen Hinzuverdienstgrenzen für Erwerbsminderungsrenten
In der gesetzlichen Rentenversicherung zum 01.01.2023: Mehr Flexibilität auch für die betriebliche Altersversorgung?
Wie bereits im aktuellen P&O-Newsflash angekündigt, ist am 01.01.2023 das 8. Gesetz zur Änderung der SGB IV und anderer Gesetze (im Folgenden „Neuregelungen“) in Kraft getreten. Die bisher geltende kalenderjährliche Hinzuverdienstgrenze für vorgezogene gesetzliche Altersrenten¹ ist aufgehoben worden. Erleichterungen ergeben sich auch für Bezieher von Erwerbsminderungsrenten. Mit der Neuregelung möchte der Gesetzgeber mehr Flexibilität beim Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand schaffen und somit dem bestehenden Arbeits- und Fachkräftemangel entgegenwirken.
Die Bindung qualifizierter Fachkräfte kann auch ein Anreiz für Arbeitgeber sein, ihren älteren Mitarbeitern mehr Flexibilität beim Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand ermöglichen. So könnten Arbeitgeber aufgrund der Neuregelungen ihren älteren Mitarbeitern ermöglichen, weiterzuarbeiten und gleichzeitig eine gesetzliche und ggf. auch eine betriebliche Altersversorgung (im Folgenden „bAV“) zu beziehen.
Leider hat der Gesetzgeber mit den Neuregelungen die bAV nicht vollumfänglich mitbedacht. Arbeitgeber, die qualifizierte Fachkräfte binden möchten, sollten sich deshalb proaktiv mit Fragen, die sich aufgrund der Neuregelungen im Betriebsrentenrecht nun stellen, beschäftigen und ihre Versorgungsordnungen auf einen Anpassungsbedarf hin überprüfen.
Welche kalenderjährlichen Hinzuverdienstgrenzen galten vor dem 01.01.2023?
Vor der Corona-Pandemie galt in Bezug auf vorgezogene gesetzliche Altersrenten eine kalenderjährliche Hinzuverdienstgrenze von 6.300 Euro. Wurde diese überschritten, bestand ein Anspruch auf Teilrente. Die Teilrente wurde berechnet, indem der kalenderjährliche Hinzuverdienst, der über der Hinzuverdienstgrenze liegt, zunächst durch zwölf geteilt und zu 40 % von der monatlichen Vollrente abgezogen wurde.
Ferner gab es einen sog. Hinzuverdienstdeckel, damit durch Rente und Hinzuverdienst kein höheres Einkommen als vor dem Rentenbezug erzielt wurde.
Durch das erste Corona-Sozialschutzpaket wurde die kalenderjährliche Hinzuverdienstgrenze in 2020 von 6.300 Euro auf 44.590 Euro angehoben. Der Hinzuverdienstdeckel fand zudem keine Anwendung mehr. Diese Regelung galt zunächst befristet bis zum 31.12.2021, wurde aber bis zum 31.12.2022 mit der Maßgabe verlängert, dass die kalenderjährliche Hinzuverdienstgrenze auf 46.060 Euro angehoben wurde.
Bei der gesetzlichen Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung wurde die kalenderjährliche Hinzuverdienstgrenze individuell berechnet; zuletzt betrug sie mindestens ca. 15.990 Euro. Bei voller Erwerbsminderung galt eine kalenderjährliche Hinzuverdienstgrenze von 6.300 Euro.
Was hat sich im Hinblick auf die kalenderjährlichen Hinzuverdienstgrenzen zum 01.01.2023 geändert?
- Die kalenderjährliche Hinzuverdienstgrenze bei vorgezogenen gesetzlichen Altersrenten wurde aufgehoben. Mit dem Bezug einer vorgezogenen gesetzlichen Altersrente kann nunmehr – wie bislang erst ab Erreichen der Regelaltersgrenze – unbeschränkt hinzuverdient werden.
- Bei der gesetzlichen Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung werden die Hinzuverdienstgrenzen nun individuell berechnet und knüpfen an die monatliche Bezugsgröße in der Sozialversicherung an. Im Jahr 2023 betragen die Mindesthinzuverdienstgrenzen bei teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung ca. 35.650 bzw. ca. 17.820 Euro.
Wie wirken sich die Neuregelungen auf die Unternehmen, deren bAV und sonstige Vorruhestandsmodelle aus?
Die Neuregelung führt dazu, dass gesetzliche Altersrenten vor Erreichen der Regelaltersgrenze ohne Kürzung aufgrund von Hinzuverdienst (aus Weiterbeschäftigung) bezogen werden können.
Neben dieser Verbesserung aus Arbeitnehmersicht kommt es bei einigen vorgezogenen gesetzlichen Altersrenten² weiterhin zu Abschlagskürzungen (0,3 % pro Monat). Abschläge sind jedoch für die Arbeitnehmer erst nach langer Rentenbezugsdauer nachteilhaft, da der vorzeitige Bezug zwar zu einer Reduktion des Rentenzahlbetrags führt, umgekehrt die Rente aber bereits ausgezahlt und damit länger bezogen wird. Die Altersrente für besonders langjährig Versicherte (sog. „Rente mit 63“) ist dagegen abschlagsfrei.
Es wird allgemein damit gerechnet, dass die Arbeitnehmer in Zukunft vermehrt vorgezogene gesetzliche Altersrenten, vor allem die abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte, beantragen und dann – je nach persönlicher Einkommenssituation – gleichzeitig, ggf. in Teilzeit, weiterarbeiten.
Dementsprechend besteht bei Bezug einer gesetzlichen Altersrente als Vollrente gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 Betriebsrentengesetz (BetrAVG) ein Anspruch auf eine vorzeitige betriebliche Altersversorgung, wenn ferner die sonstigen Leistungsvoraussetzungen der bAV-Zusage, wie z.B. die Wartezeit oder die Beendigung des Arbeitsverhältnisses, erfüllt sind. Da insbesondere das Ausscheideerfordernis in den meisten betrieblichen Versorgungszusagen³ Voraussetzung für den Leistungsbezug ist, dürften Arbeitnehmer mit Betriebsrentenanwartschaften zukünftig eher später ihre Betriebsrente beanspruchen, da sie aufgrund der Neuregelung künftig einen Anreiz haben, länger im Arbeitsverhältnis zu bleiben.
Eine regelmäßig spätere Inanspruchnahme der Betriebsrente würde perspektivisch eine Heraufsetzung des bAV-Finanzierungsendalters in der Handelsbilanz zur Folge haben. Ein höheres Endalter kann je nach Zusage und Finanzierung der bAV unterschiedliche finanzielle wie bilanzielle Implikationen für die Unternehmen haben:
- Bei „klassischen“ Rentenzusagen, deren Leistungshöhe oftmals ab einer bestimmten Dienstzeit gedeckelt ist, ergibt sich unterm Strich eine Ersparnis für den Arbeitgeber, weil er sich einerseits mehrere Jahre Rentenauszahlungen einspart und anderseits kaum (ggf. Aufschläge) bzw. keine weiteren Betriebsrentenanwartschaften hinzukommen.
- Bei beitragsorientierten Zusagen mit Kapitalisierungsoption müsste der Arbeitgeber über die längere Beschäftigungsdauer mehr Beiträge in den Versorgungsplan einzahlen.
In der Steuerbilanz ergibt sich mit der Neuregelung keine Veränderung, da dort trotz eines etwaigen Trends zu einem späteren Renteneintritt weiterhin das frühestmögliche Renteneintrittsalter in der gesetzlichen Rentenversicherung angesetzt werden darf.
Hingegen haben ehemalige Mitarbeiter, die vormals mit einer unverfallbaren Anwartschaft aus dem jeweiligen Unternehmen ausgeschieden sind, nach § 6 BetrAVG die Möglichkeit, ihre bAV mit dem zukünftig tendenziell früheren Bezug der gesetzlichen Rente geltend zu machen. Gleiches gilt für Versorgungszusagen, die das Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis nicht als Leistungsvoraussetzung für den Bezug der bAV vorsehen (insb. bei Direktversicherungen der Fall).
Hinsichtlich anderer Vorruhestandsmodelle wie z.B. Wertguthabenmodelle könnten sich durch die Neuregelung weitere interessante Kombinationsmöglichkeiten für rentennahe Arbeitnehmer ergeben. So wäre z.B. eine längere Freistellungs- oder Teilzeitphase als bisher durch eine Kombination aus Freistellungs- und/oder Teilzeitgehalt sowie gesetzlicher (Teil-)rente möglich. Bestehende Vereinbarungen sollten grundsätzlich im Hinblick auf die Neuregelung überprüft und mitunter angepasst werden.
Fazit und Ausblick
Der Gesetzgeber hat mit den Neuregelungen in der gesetzlichen Rentenversicherung die Folgen für die bAV der Unternehmen – bewusst oder unbewusst – nicht ausreichend mitbedacht.
Deshalb sollten sich Arbeitgeber, die ihren älteren Mitarbeitern die Weiterarbeit neben dem Bezug einer vorzeitigen betrieblichen Altersversorgung ermöglichen möchten, mit Fragen, welche sich aufgrund der Neuregelungen im Betriebsrentenrecht nun stellen, proaktiv beschäftigen.
Solche Fragen können beispielsweise sein:
- Entstehen durch die späteren bAV-Renteneintritte Einsparungen oder Aufwände?
- Ergibt eine Änderung der Versorgungszusage im Hinblick auf einen bAV-Rentenbezug bei gleichzeitiger Weiterbeschäftigung Sinn?
- Welche Regelungen sehen die bestehenden Versorgungsordnungen und Altersvorsorgeprodukte / Versorgungsträger in Bezug auf gesetzliche Renten, Hinzuverdienst und Ausscheiden vor? Besteht in dieser Hinsicht ein Anpassungsbedarf?
- Ob und welche Anpassungen sind in laufenden Altersteilzeit- bzw. Wertguthabenvereinbarungen notwendig? Wie lassen sich verschiedene Vorruhestandsangebote sinnvoll miteinander kombinieren?
Es bietet sich für Arbeitgeber an, solche Fragen durch externe Rechtsberater und Altersvorsorgespezialisten im Hinblick auf rechtliche und bewertungs-/bilanzierungsrelevante Auswirkungen überprüfen und Versorgungssysteme auf einen Anpassungsbedarf analysieren zu lassen.
Die Autor:innen
Michael Goulios, Rentenberater; Mario Mitrovic, Rechtsanwalt
Die Autor:innen und die Ihnen ggf. schon bekannten Ansprechpartner unserer 50 Mitglieder starken Praxisgruppe Arbeitsrecht stehen Ihnen bei weitergehenden Fragen zur Bedeutung der gesetzlichen Neuerungen für Ihre betriebliche Situation oder Planungen jederzeit gerne zur Verfügung.
¹ Als vorgezogene Altersrenten im Sinne dieses Artikels sind alle gesetzlichen Renten, deren Rentenbeginn vor Erreichen der individuellen Regelaltersgrenze (vollendetes 67. Lebensjahr ab Jahrgang 1964) liegt, gemeint. Dies umfasst folgenden Altersrentenarten: Altersrente für langjährig Versicherte, Altersrente für besonders langjährig Versicherte und Altersrente für schwerbehinderte Menschen.
² Altersrente für langjährig Versicherte und Altersrente für schwerbehinderte Menschen
³ Betrachtet werden hier die Implikationen auf unmittelbare Versorgungszusagen (Direktzusagen).