Urteil des EuG zu Prüfungspflicht und Prüfungsdichte der EU-Kommission im Hinblick auf die AGVO
Die Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO) ist eine der wichtigsten EU-beihilfenrechtlichen Legitimationsgrundlagen, die vor allem in der Praxis der staatlichen Infrastrukturfinanzierung oft zur Geltung kommt, aber selten Gegenstand von Gerichtsverfahren ist. Umso bedeutender sind Entscheidungen der Europäischen Gerichte hierzu, die sich mit der Reichweite der Prüfungsbefugnisse der EU-Kommission bei der Anwendung der AGVO auseinandersetzen. In seinem Urteil vom 09.09.2020 (T-745/17) („Kerkosand“) hat das Europäische Gericht (EuG) grundlegend dazu Stellung genommen.
Hintergrund des Urteils
Die slowakische Innovations- und Energieagentur gewährte einem Unternehmen eine Beihilfe i.H.v. rund € 5 Mio. auf Grundlage einer nationalen Regelung („Staatliche Beihilferegelung zur Einführung innovativer und fortgeschrittener Technologien im Industrie- und Dienstleistungsbereich“), die als eine regionale Investitions- und Beschäftigungsbeihilferegelung i.S.d. der AGVO qualifiziert wurde. Die slowakischen Behörden stuften die Einzelbeihilfe als vom Anwendungsbereich dieser Beihilferegelung umfasst und damit als mit dem Binnenmarkt vereinbare Beihilfe ein. Dagegen legte die Wettbewerberin Kerkosand Beschwerde bei der EU-Kommission ein, die die Beschwerde mit Beschluss vom 20.07.2017 (SA.38121) als unbegründet zurückwies. Gegen diesen Beschluss erhob Kerkosand Klage vor dem EuG. In den Klagegründen warf sie der EU-Kommission insbesondere vor, die Vereinbarkeit der Beihilfe mit den Voraussetzungen der Beihilferegelung und der AGVO nicht hinreichend vertieft geprüft zu haben.
Inhalt des Urteils
Das EuG gab der Klage statt und hob den Beschluss der EU-Kommission auf. Im Wesentlichen bemängelte es, dass die EU-Kommission „die im vorliegenden Fall relevanten Umstände unzureichend ermittelt und geprüft“ habe. Im Einzelnen:
Prüfungspflicht der EU-Kommission
Die EU-Kommission habe zum einen die Beihilfe nicht hinreichend auf ihre Vereinbarkeit mit den einschlägigen Freistellungsvoraussetzungen geprüft. Mit dem Erlass der Gruppenfreistellungs-verordnungen übertrage die EU-Kommission ihre Prüfungs- und Entscheidungsbefugnisse im Bereich staatlicher Beihilfen nicht an die nationalen Behörden und behält in vollem Umfang ihre Überwachungsbefugnis nach Art. 107 Abs. 3 und Art. 108 Abs. 3 AEUV. Für eine Beihilfe, die nach Auffassung eines Mitgliedstaats die Voraussetzungen der AGVO erfüllt, kann daher „allenfalls eine Vermutung der Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt“ bestehen.
Die EU-Kommission habe in dieser Hinsicht eine ausschließliche Zuständigkeit und – insbesondere bei einer eingegangenen Beschwerde, eine Prüfungspflicht. „Die Prüfungspflicht der Kommission umfasste somit zwingend – unter der Kontrolle des Unionsrichters – das Erfordernis, die Reichweite der einschlägigen Freistellungsvoraussetzungen auszulegen und deren korrekte Anwendung auf den Einzelfall zu prüfen“. Sie dürfe sich bei Beschwerden demnach nicht nur auf die Prüfung der Einhaltung der Anmeldepflicht beschränken, sondern müsse auch die Voraussetzungen der Freistellung prüfen. In diesem Zusammenhäng verweist das EuG auch auf die jüngere Entscheidung „Bayerische Motorenwerke“ des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), in der der EuGH darauf eingegangen ist.
Prüfungsdichte
Zum anderen habe die EU-Kommission die Freistellungsvoraussetzungen nicht mit der hinreichenden Kontrolldichte geprüft. Das EuG führt insoweit aus, dass die EU-Kommission bei der Prüfung, ob die nationalen Behörden die Freistellungsvoraussetzungen einer Gruppenfreistellungsverordnung beachtet haben, kein Ermessen habe. Die Wahrnehmung der Kontrolle durch die EU-Kommission im Rahmen der AGVO komme „einer reinen Rechtmäßigkeitskontrolle gleich.“ Dies folge zum einen aus dem abschließenden Charakter der Freistellungsvoraussetzungen der AGVO und zum anderen aus der rechtlichen Verbindlichkeit und unmittelbaren Anwendbarkeit der AGVO im nationalen Recht.
Das EuG bemängelt insofern auch, dass die EU-Kommission nicht hinreichend präzise geprüft habe, ob es sich bei dem Beihilfeempfänger um ein Kleines und Mittleres Unternehmen (KMU) im Sinne der AGVO handelt. Hier hätte sich die EU-Kommission nicht auf die von den slowakischen Behörden übermittelten Informationen verlassen dürfen, sondern die relevanten Daten vielmehr eigenständig ermitteln und überprüfen müssen. Dies gelte erst recht, weil Indizien für Verflechtungen zwischen Unternehmen vorlagen, die geeignet waren, Bedenken hinsichtlich der Einstufung des Beihilfeempfängers als KMU entstehen zu lassen. Das EuG stellte insoweit auch kritisch fest, dass der „Benutzerleitfaden zur Definition der KMU“, auf den sich die EU-Kommission stütze, kein rechtsverbindlicher Text sei und daher auch nicht die Tragweite der AGVO abändern oder einschränken könne.
Das EuG weist darauf hin, dass der EU-Kommission ein Ermessen nur dann zustünde, wenn sie die Vereinbarkeit der Beihilfe nicht nach der AGVO, sondern auf Basis von Art. 107 Abs. 3 AEUV im Einzelfall beurteilt und hierbei die ergänzenden Kriterien der Regionalbeihilfen berücksichtigt. Diese Leitlinien würden zugleich ihr Ermessen begrenzen, weil die EU-Kommission durch ihren Erlass und ihre Veröffentlichung ankündigt, dass sie die Leitlinien künftig auf die von ihr erfassten Fälle anwenden werde (Selbstbindung der Verwaltung).
Fazit
Die Regelungen der in den Mitgliedstaaten der EU unmittelbar anwendbaren AGVO tragen vielfach zu einer leichteren und effizienteren Gestaltung der Beihilfengewährung zugunsten von insbesondere Infrastrukturen bei. Das macht die AGVO für Beihilfegeber und -empfänger äußerst beliebt. Daher ist es nicht überraschend, dass gerade im Bereich der kommunalen Finanzierungen die AGVO – jenseits der auf den DAWI-Freistellungsbeschluss gestützten Finanzierungen – in fast 90% der Fälle als das geeignete Instrument in Frage kommt. Zugleich gibt es die Freistellung nach der AGVO nicht zum Nulltarif: Wie das EuG bereits in den Sachen Dilly´s Wellness Hotel I (C-493/14) und Eesti Pagar (C-349/17) hervorgehoben hat, ist vor der Anwendung der AGVO zu prüfen, ob sämtliche Freistellungs-voraussetzungen der AGVO vorliegen. Ebenfalls ist die EU-Kommission mit einer Prüfungspflicht konfrontiert und muss die Einhaltung der Freistellungsvoraussetzungen der AGVO – insbesondere bei Beschwerden von Dritten oder bei Vorliegen entsprechender Indizien, die Zweifel an der Vereinbarkeit der Beihilfe aufwerfen – auch inhaltlich genau prüfen. Öffentlichen Stellen, die Beihilfen auf der Grundlage der AGVO gewähren, ist daher zu empfehlen, vorab zu überprüfen und sicherzustellen, dass alle Freistellungsvoraussetzungen zweifelsfrei eingehalten werden können.