Neue Regeln für die virtuelle Hauptversammlung
In Reaktion auf das Auslaufen der befristeten Sonderregelungen nach dem COVMG wurde mit dem „Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung genossenschafts- sowie insolvenz- und restrukturierungsrechtlicher Vorschriften“ vom 20. Juli 2022 eine dauerhafte Grundlage für virtuelle Hauptversammlungen bei Aktiengesellschaften geschaffen.
In Abweichung zu den Sonderregelungen des COVMG, die aus Anlass der COVID-19-Pandemie geschaffen wurden und bis 31. August 2022 galten, gleicht der Gesetzgeber die neu eingeführten Vorgaben deutlich an die Regelungen für Präsenzveranstaltungen an. Die Einschränkungen der Aktionärsrechte, die das COVMG vorsah, wurden weitgehend abgebaut.
Die wesentlichen Neuerungen sind folgende:
1. Satzungsvorbehalt
Gemäß dem neuen § 118a Abs. 1 Satz 1 AktG kann die Satzung der Aktiengesellschaft künftig die virtuelle Abhaltung der Hauptversammlung verbindlich vorgeben oder den Vorstand ermächtigen, die Versammlung (auch) in virtueller Form durchzuführen. Die zweite Alternative erscheint wegen ihrer größeren Flexibilität grundsätzlich vorzugswürdig. Die jeweilige Satzungsregelung ist auf maximal 5 Jahre ab Eintragung der Satzung bzw. Satzungsänderung im Handelsregister zu befristen.
Ohne eine solche Satzungsgrundlage sind virtuelle Hauptversammlungen künftig nicht mehr möglich. Lediglich für eine Übergangsphase bis 31. August 2023 kann der Vorstand auch ohne entsprechende Satzungsregelung, aber mit Zustimmung des Aufsichtsrats zur Abhaltung der Hauptversammlung in virtueller Form optieren, wenn die übrigen Neuregelungen zu virtuellen Hauptversammlungen beachtet werden. Hauptversammlungen im Jahr 2023 sollten somit nicht zuletzt die Satzungsänderungen zum Gegenstand haben, die erforderlich sind, um die Hauptversammlung auch künftig virtuell abhalten zu können.
2. Anwesenheitspflichten
§ 118a Abs. 2 AktG gibt die physische Anwesenheit von Versammlungsleiter, Vorstand und Aufsichtsrat am Ort der Hauptversammlung vor. Für den Aufsichtsrat gilt dies jedoch nur, soweit die Satzung nicht gem. § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG für Aufsichtsratsmitglieder die Teilnahme via Bild- und Tonübertragung vorsieht. Soweit Beschlüsse der Hauptversammlung notariell zu beurkunden sind, muss auch der Notar gem. § 130 Abs. 1a AktG am Ort der Hauptversammlung anwesend sein.
3. Aktionärsrechte in der virtuellen Hauptversammlung
Die Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung ist nur zulässig, wenn den Aktionären die folgenden, in § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1-8 AktG bestimmten Rechte eingeräumt werden:
3.1 Bild- und Tonübertragung
Die gesamte Hauptversammlung muss in Bild und Ton übertragen und somit von den Aktionären live verfolgt werden können. Je nach Größe des Aktionärskreises sind etwa die Durchführung der Versammlung als Videokonferenz oder eine Übertragung per Livestream denkbar.
3.2 Stimmrechtsausübung
Die Aktionäre müssen die Möglichkeit zur Stimmrechtsausübung im Wege der elektronischen Kommunikation haben, sei es per elektronischer Teilnahme oder elektronischer Briefwahl. Auch die Möglichkeit zur Vollmachtserteilung muss gewährleistet sein.
3.3 Anträge und Wahlvorschläge
Die elektronisch zugeschalteten Aktionäre müssen ferner die Möglichkeit haben, in der Versammlung Anträge und Wahlvorschläge in Form einer Zwei-Wege-Direktverbindung zu stellen.
Gegenanträge, die gem. § 126 AktG bereits vor der Hauptversammlung gestellt und zugänglich gemacht wurden, gelten nach dem neu eingefügten § 126 Abs. 4 AktG bei virtuellen Hauptversammlungen als im Zeitpunkt der Zugänglichmachung gestellt. Sie müssen in der Versammlung somit nicht erneut gestellt werden. Sobald die Aktionäre die gesetzlichen und satzungsmäßigen Voraussetzungen für die Stimmrechtsausübung nachweisen können, muss ihnen die Möglichkeit zur Abstimmung über vorgenannte Anträge eingeräumt werden.
3.4 Auskunftsrecht
Den Aktionären muss das Auskunftsrecht nach § 131 AktG im Wege der elektronischen Kommunikation eingeräumt werden. Zur Entlastung der virtuellen Hauptversammlung sehen die neu eingefügten § 131 Abs. 1a-1f AktG verschiedene Möglichkeiten zur Einschränkung des Fragerechts vor.
Besonders hervorzuheben ist insoweit das Recht des Vorstands, die Einreichung von Fragen gem. § 131 Abs. 1a AktG nur bis 3 Tage vor der Versammlung im Wege der elektronischen Kommunikation zuzulassen. Nicht fristgerecht eingereichte Fragen müssen nicht berücksichtigt werden. Ordnungsgemäß eingereichte Fragen sind allen Aktionären vor der Versammlung zugänglich zu machen und bis spätestens einen Tag vor der Versammlung zu beantworten. Fragen, deren Beantwortung mindestens einen Tag vor Beginn der Versammlung zugänglich war, müssen in der Versammlung nicht mehr beantwortet werden.
Allerdings ist gemäß. § 131 Abs. 1d AktG allen Aktionären, die an der virtuellen Hauptversammlung teilnehmen, ein Nachfragerecht zu den in und auch vor der Versammlung erfolgten Antworten des Vorstandes im Wege der elektronischen Kommunikation einzuräumen. Dies gilt unabhängig davon, welcher Aktionär die Ausgangsfrage gestellt hatte.
Darüber hinaus muss elektronisch zugeschalteten Aktionäre gem. § 131 Abs. 1e AktG auch die Möglichkeit eingeräumt werden, Fragen zu Sachverhalten zu stellen, die sich erst nach Ablauf der 3-Tage-Frist ergeben haben.
3.5 Bericht des Vorstands
Bestimmt der Vorstand entsprechend den obigen Ausführungen die Vorverlagerung des Fragerechts, muss sein Bericht oder zumindest dessen wesentlicher Inhalt den Aktionären bis spätestens sieben Tage vor der Versammlung zugänglich gemacht werden.
3.6 Recht zur Stellungnahme
Den Aktionären ist das Recht einzuräumen, bis spätestens 5 Tage vor der Versammlung Stellungnahmen im Sinne des § 130a Abs. 1-4 AktG zu den Gegenständen der Tagesordnung im Wege elektronischer Kommunikation einzureichen. Entsprechende Stellungnahmen sind den Aktionären bis spätestens 4 Tage vor der Versammlung zugänglich zu machen. Die Stellungnahmen können auf einen angemessenen Umfang sowie deren Zugänglichmachung auf ordnungsgemäß zur Versammlung angemeldete Aktionäre beschränkt werden.
3.7 Rederecht
Den der Versammlung elektronisch zugeschalteten Aktionären ist ein „Live“-Rederecht per Videokommunikation gem. § 130a Abs. 5-6 AktG einzuräumen.
3.8 Widerspruchsrecht
Den elektronisch der Versammlung zugeschalteten Aktionären ist schließlich auch die Möglichkeit zum Widerspruch im Wege der elektronischen Kommunikation gegen einen Beschluss der Hauptversammlung einzuräumen.
4. Fazit
Aufgrund der immer weiter zunehmenden Digitalisierung sämtlicher Lebensvorgänge und der positiven Erfahrungen mit virtuellen Hauptversammlungen während der COVID-19-Pandemie dürfte bei vielen Aktiengesellschaften ein erhebliches Interesse bestehen, Hauptversammlungen auch künftig in virtueller Form durchzuführen. Die Angleichung der Aktionärsrechte an den Standard von Präsenzveranstaltungen führt allerdings zu einem gesteigerten Organisationsaufwand. Insbesondere bei Publikums-Aktiengesellschaften macht das eine sorgfältige Planung und Vorbereitung der virtuellen Hauptversammlung unerlässlich.