Nachweis des materiellen Anreizeffekts: Warum die EU-Kommission Ungarns Beihilfen für ein neues Automobilwerk ablehnte
Die EU-Kommission hat mit ihrem Beschluss vom 11. Juni 2024 (SA.63470 - LIP - Regional investment aid to Rubin NewCo 2021 Kft.) festgestellt, dass die beabsichtigte Beihilfe Ungarns zugunsten der GKN Automotive Kft. (nachfolgend „GKN“), vorher Rubin NewCo Kft., nicht mit den Leitlinien für Regionalbeihilfen 2014, ABl. C 209/1 sowie den Leitlinien für Regionalbeihilfen 2022, ABl. C 153/1 (nachfolgend gemeinsam „Regionalleitlinien“) vereinbar ist.
Hintergrund
Die ungarische Regierung plante, der GKN, einer Tochtergesellschaft der Melrose Group (nachfolgend Melrose), regionale Investitionsbeihilfen für den Aufbau einer neuen Produktionsstätte für Automobilkomponenten in Miskolc, Nordungarn, einem A-Fördergebiet, zu gewähren. Die Beihilfemaßnahme umfasste einen Direktzuschuss und eine Steuervergünstigung. Ungarn trug vor, dass das Vorhaben ohne Beihilfe nicht in Ungarn, sondern in der Türkei umgesetzt werden würde (kontrafaktisches Szenario).
Ergebnis des vorläufigen Prüfverfahrens
Im Rahmen des vorläufigen Prüfverfahrens äußerte die Kommission ernsthafte Zweifel an der Vereinbarkeit der Beihilfemaßnahme mit dem Binnenmarkt. Sie hinterfragte die Glaubwürdigkeit des kontrafaktischen Szenarios und mithin die Anreizwirkung sowie die Verhältnismäßigkeit der Beihilfe. Daneben konnte die Kommission das Vorliegen negativer Auswirkungen auf den innergemeinschaftlichen Wettbewerb und Handel in Gestalt einer Verlagerung von Tätigkeiten sowie die Schaffung von Überkapazitäten auf einem rückläufigen Markt nicht ausschließen.
Ergebnis des förmlichen Prüfverfahrens
Daher eröffnete die Kommission das förmliche Prüfverfahren. Sie stellte hier fest, dass der materielle Anreizeffekt der Beihilfenmaßnahme zugunsten der GKN gemäß den Regionalbeihilfeleitlinien nicht von Ungarn nachgewiesen wurde. Die weiteren genannten Zweifel bedurften daher keiner weiteren Prüfung.
Die Zweifel hinsichtlich des materiellen Anreizeffektes beruhten maßgeblich auf zwei Gründen:
- Die Kommission zweifelte am Mandat der GKN, die abschließende Entscheidung über den (Alternativ-)Standort zu treffen und
- daran, dass die Türkei als kontrafaktisches Szenario tatsächlich in Betracht gezogen wurde.
Zur Frage der abschließenden Standortentscheidung
Aus Sicht der Kommission war der Standort in Ungarn integraler Bestandteil des im Dezember 2020 von der Muttergesellschaft Melrose genehmigten Investitionsantrags der GKN. Vielmehr kam die Kommission zu dem Schluss, dass Melrose durch Genehmigung des Investitionsantrages die finale Standortentscheidung bereits getroffen habe, bei der die ungarische Beihilfe keinen entscheidenden Faktor darstellte.
Ungarn legte keine glaubwürdigen Beweise vor, dass dies tatsächlich nur eine Arbeitshypothese gewesen sei und die abschließende Standortentscheidung nach dieser Genehmigung durch Melrose weiterhin offen war. Insbesondere die vorgelegte interne Dokumentation samt Investitionsantrag ließen ihrem Wortlaut nach aus Sicht der Kommission keine andere Interpretation zu.
Die Kommission fand vor allem keine überzeugenden Beweise, dass die genehmigte Investitionsentscheidung von einem Amortisationszeitraum von 4,5 bis 5,4 Jahre abhängig gewesen sei, wodurch weitere Standorte hätten geprüft werden müssen. Es ist für sie nicht ersichtlich geworden, dass der genannte Amortisationszeitraum für das Projekt entscheidend war, wie von Ungarn vorgetragen. So enthielt schon der genehmigte Investitionsantrag einen Hinweis auf einen Zeitraum von 5,4 bis 7 Jahre und auch dazugehörige Dokumente gaben keinen Hinweis auf eine knappere Vorgabe. Auch weitere Dokumente, welche im Verlauf des Verfahrens nach dem Investitionsantrag ausgetauscht worden sind, haben nie auf eine Amortisationszeit von 4,5 bis 5,4 Jahren hingewiesen. Insbesondere wurde letztlich auch bei der Standortentscheidung zwischen der Türkei und Ungarn auf einen NPV-Vergleich abgestellt, ohne dass die Amortisationszeit Erwähnung fand.
Zu Frage der Türkei als glaubwürdiges kontrafaktisches Szenario
Zudem stellt die Kommission fest, dass die von GKN und Melrose vorgelegten Dokumente nicht geeignet waren, die ernsthaften Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Türkei als kontrafaktisches Szenario auszuräumen. Vielmehr sei aus Sicht der Kommission die Türkei nur als hypothetisches Szenario eingeführt worden, um die Chancen der GKN auf den Erhalt staatlicher Beihilfen von Ungarn zu verbessern.
Ungarn trug vor, dass aufgrund der Vorgaben zum Amortisationszeitraum (s.o.) zwischen November und Dezember 2020 mehrere Diskussionen stattgefunden hätten, um die Amortisationszeit des Projekts zu verbessern, wobei als Standortoptionen u.a. Bulgarien, Rumänien, Serbien, Marokko und die Türkei in Betracht gezogen wurden. Ungarn reichte zwar entsprechende Nachweise ein, in denen die Türkei als geeignetes kontrafaktisches Szenario identifiziert wurde. Es fehlten aus Sicht der Kommission detaillierte Nachweise, die eine überzeugende Untersuchung der Standortoptionen mit Ausnahme der Türkei glaubhaft belegten.
Darüber hinaus zweifelte die Kommission an der Türkei als realistische Standortoption. Sie war vor Stellung des Investitionsantrages bereits von der GKN aufgrund politischer Risken als ungeeignete verworfen worden. Eine Veränderung der Situation war bei erneuter Berücksichtigung nach Genehmigung der Investition durch Melrose nicht ersichtlich und weder Ungarn noch die beteiligten Parteien konnten nachweisen, dass sich die Gegebenheiten in der Türkei bzw. hinsichtlich der Standortkriterien derart geändert hätten, dass die Türkei als realistische Standortoption wieder berücksichtigt werden konnte.
Fazit
Die Kommission hat die geplanten Beihilfen Ungarns zugunsten der GKN abgelehnt, da Ungarn den materiellen Anreizeffekt der Beihilfe nicht nachweisen konnte. Die Kommission zweifelte sowohl an der Glaubwürdigkeit des vorgelegten kontrafaktischen Szenarios (Türkei) als auch an der endgültigen Standortentscheidung. Aufgrund unzureichender und widersprüchlicher Dokumentation, die den Vortrag Ungarns nicht unterstützen konnte, konnte die Kommission die Vereinbarkeit der Beihilfen mit den Regionalleitlinien nicht bestätigen.
Verfasst von Kerstin Rohde und Philipp Laudenbach