Nach dem Spiel ist vor dem Spiel: Zum Urteil des EuGH über die Rechte der Käufer beim Einsatz sog. „Thermofenster“ (Rs. C-100/21)
Thermofenster haben den EuGH in der Vergangenheit schon mehrfach beschäftigt. Es handelt sich dabei um eine Software, die die Rückführungsrate von Schadstoffen eines Kraftfahrzeuges abhängig von der Außentemperatur reduziert. Thermofenster sind nur unter sehr engen Voraussetzungen erlaubt. Soweit der EuGH über ihre Rechtmäßigkeit zu entscheiden hatte, wurden sie durchweg als unzulässige Abschalteinrichtung i.S.v. Art. 5 Abs. 2 der Fahrzeugemissionen-Verordnung 715/2007 qualifiziert (Rs. C-128/20, C-134/20 u. C-145/20), zuletzt am 8. November 2022 auf eine Klage der Deutschen Umwelthilfe gegen das Kraftfahrtbundesamt (Rs. C-873/19). Insofern sind die Thermofenster europarechtlich schon fast ein alter Hut.
Noch nicht durch den EuGH entschieden war bisher, ob die Käufer der betroffenen PKW Rechte aus dem Einsatz solcher Thermofenster gegen die Hersteller herleiten können. Hier gingen die Kläger vor deutschen Gerichten bislang leer aus, da die einschlägigen Bestimmungen der deutschen EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung (§§ 6, 27 EG-FGV) sowie der europäischen Fahrzeugemissionen-Verordnung 715/2007 nicht drittschützend i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB seien (vgl. etwa BGH, Urteil v. 4.5.2022, Az. VII ZR 733/21). Auch Ansprüche aus einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung (§ 826 BGB) haben die deutschen Gerichte abgelehnt, da es am Vorsatz der Hersteller hinsichtlich der Rechtswidrigkeit der Thermofenster fehle.
Dieser Rechtsprechung hat der EuGH nun, was die drittschützende Wirkung der europäischen Regelungen zur Typgenehmigung angeht, eine klare Absage erteilt. Aus der Übereinstimmungsbescheinigung, die jeder Hersteller gem. Art. 18 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46/EG einem neu zugelassenen Fahrzeug beilegen muss, lässt sich nach Auffassung des EuGH ableiten, dass die europäischen Regelungen zur Typengenehmigung und Emissionsbegrenzung von PKW nicht nur dem Interesse der Allgemeinheit an einer hohen Luftqualität dienten, sondern auch die individuellen Interessen der Käufer gegenüber den Herstellern schützen sollten.
Damit ist für Käufer von PKWs, bei denen unzulässige Thermofenster zum Einsatz kommen, jetzt grundsätzlich der Weg eröffnet, über § 823 Abs. 2 BGB selbst bei nur leichter Fahrlässigkeit der Hersteller Schadensersatz zu erlangen.
Werden die Karten im Dieselskandal jetzt neu gemischt?
Das Urteil stieß nicht nur in der Fachpresse, sondern in allen Medien auf breite Resonanz. Verbraucheranwälte feierten die Entscheidung bereits am Tag nach der Verkündung als Sensation und machten im Internet für eine neue Klagewelle in Sachen „Thermofenster“ mobil. Nüchtern betrachtet muss man allerdings feststellen, dass sich viele deutsche Oberlandesgerichte bislang von dem EuGH-Verfahren wenig beeindruckt gezeigt haben. So haben diverse Oberlandesgerichte Klagen auf Schadensersatz aufgrund der Thermofenster ungeachtet des laufenden EuGH-Verfahrens weiterhin wegen einer mangelnden Schutzwirkung des Fahrzeuggenehmigungsrechts abgewiesen. Dies selbst noch, nachdem sich der Generalanwalt am EuGH in seinen Anträgen vom 2. Juni 2022 klar zugunsten eines Drittschutzes der europäischen Regelungen positioniert hatte (vgl. z.B. OLG München, Beschluss v. 23.08.2022, Az. 24 U 926/22; OLG Stuttgart, Urteil v. 28.06.2022, Az. 24 U 115/22; OLG Frankfurt a.M., Beschluss v. 01.08.2022, Az. 11 U 144/20; OLG Koblenz, Urteil v. 09.08.2022, Az. 11 U 1921/21).
Es ist bemerkenswert, dass die zitierten Oberlandesgerichte schon über ein halbes Jahr vor der Entscheidung des EuGH gewusst haben wollen, dass dessen Entscheidung keinen Einfluss auf die deutsche Rechtsprechung zu den Thermofenstern haben würde. Zu diesem Zeitpunkt dürfte der EuGH nicht einmal selbst gewusst haben, was er dem Landgericht Ravensburg auf seine Vorlagefragen antworten würde. Daher ist der für die Dieselverfahren zuständige Senat des BGH einen anderen Weg gegangen. Er hat die mündliche Verhandlung in einem Schadensersatzverfahren betreffend die Thermofenster mit Blick auf das laufende EuGH-Verfahren mehrfach verlegt und auch die Instanzgerichte aufgerufen, das Urteil des EuGH abzuwarten, um einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten (vgl. die Pressemitteilung des BGH im Verfahren VIa ZR 335/21).
Die mündliche Verhandlung dieses BGH-Verfahrens ist nun für den 8. Mai anberaumt und wird allseits mit Spannung erwartet. Die Hersteller hoffen auf einen „Befreiungsschlag“ und das nicht nur wegen des geschichtsträchtigen Datums. Denn obwohl die Kläger mit dem EuGH-Urteil zum Drittschutz eine wichtige Hürde genommen haben, gefallen sind die Würfel in den Schadensersatzklagen betreffend die Thermofenster damit noch lange nicht. Auch wenn das „Ob“ des Drittschutzes nach der Entscheidung des EuGH eindeutig zugunsten der Käufer beantwortet ist. Die Ausgestaltung des Drittschutzes und die daraus für die Kläger abzuleitenden Rechtsfolgen bleiben unklar. Hier muss man leider feststellen, dass das EuGH-Urteil genauso viele Fragen aufwirft, wie es beantwortet.
Drittschutz ja, aber welcher?
Für die deutschen Gerichte endet die Prüfung des § 823 Abs. 2 BGB mit der bloßen Feststellung des Drittschutzes nicht. Vielmehr muss das von den Klägern geltend gemachte Interesse auch vom Schutzzweck der verletzten Norm umfasst sein. Und hier wird der Streit über den Drittschutz bei den Thermofenster-Klagen in die nächste Runde gehen. Die Käufer machen regelmäßig den Abschluss des unerwünschten Kaufvertrags selbst als Schaden geltend und begehren über § 249 Abs. 1 BGB dessen Rückabwicklung. Der BGH hat sich hier bislang auf den Standpunkt gestellt, dass die betroffenen §§ 6, 27 EG-FGV sowie Art. 5 Abs. 2 VO 715/2007 jedenfalls nicht das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht der Käufer schützten. Sie hätten daher auch keinen Anspruch darauf, sich von dem ungewollt geschlossenen Kaufvertrag zu lösen. Damit wird den Käufern der „große Schadensersatz“, also die Rückabwicklung der betroffenen Kaufverträge, grundsätzlich versagt (vgl. z.B. BGH, Beschl. v. 4.5.22, Az. VII ZR 733/21).
Das Nichtbestehen eines Rückabwicklungsanspruchs der Käufer hielt der BGH in seiner dazu ergangenen Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 2020 für derart eindeutig, dass er sich in Anwendung der acte-clair-Doktrin nicht einmal zur Vorlage an den EuGH verpflichtet sah (BGH, Urteil v. 30.7.2020, Az. VI ZR 5/20). Die acte-clair-Doktrin befreit den BGH ausnahmsweise von der Vorlagepflicht aus Art. 267 AEUV, wenn die Unionsrechtslage derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung des EuGH bleibt.
Diese Rechtsprechung könnte der BGH auch nach der Entscheidung des EuGH beibehalten, denn zum Schutzzweck des Typengenehmigungsrechts gegenüber den Käufern schweigt das Urteil. Der EuGH macht zwar Ausführungen, die darauf schließen lassen, dass nicht nur gesundheitliche, sondern auch wirtschaftliche Interessen der Käufer erfasst sind (vgl. Rz. 84). Welche Rechtsfolgen daraus abzuleiten sind, bleibt jedoch offen. Vielmehr stellt der EuGH klar, dass es Sache der Mitgliedstaaten sei, die Modalitäten für die Erlangung des Schadensersatzes festzulegen, solange es den Käufern damit nicht übermäßig erschwert oder unmöglich gemacht werde, einen angemessenen Schadensersatz zu erhalten (Rz. 92).
Denkbar ist daher, dass der BGH einen Schutz vor ungewollten Verträgen weiterhin ablehnt und die Rückabwicklung der Verträge auch künftig versagt. Die Käufer könnten dann auf den Ersatz des konkret durch die Thermofenster bedingten Vermögensnachteils beschränkt werden. Dies würde auf den „kleinen Schadensersatz“, also den Ersatz des durch die Thermofenster bedingten Minderwerts der Fahrzeuge, hinauslaufen. Und auch hier kommt die Frage nach dem Drittschutz in anderem Gewand wieder zurück. Denn wie hoch ist der wirtschaftliche Nachteil des einzelnen Käufers, wenn das Fahrzeug rechtliche Anforderungen nicht erfüllt, die der allgemeinen Verbesserung der Luftqualität dienen? Liegt dadurch überhaupt ein messbarer individueller Nachteil vor oder soll hier lediglich ein „gefühlter“ Schaden liquidiert werden? Weitere „Hilfestellung“ aus Europa dürften die Käufer in diesem Zusammenhang durch das Thermofenster-Urteil des EuGH vom 8. November 2022 in der Rechtssache C-873/19 erhalten haben. Infolge dieses Urteils hat das VG Schleswig die dort zur Entscheidung stehenden Thermofenster als rechtswidrig eingestuft (Az. 3 A 113/18). Somit drohen diesen Käufern nun obligatorische Nachrüstungen oder Stilllegungen ihrer Fahrzeuge. Spätestens nach dieser Entscheidung wird man daher wohl nicht umhinkommen, dass der Einbau eines unzulässigen Thermofensters den Wert des betroffenen Fahrzeugs auch objektiv mindert.
Vorteilsanrechnung bleibt Knackpunkt
Weiterer Zankapfel zwischen Herstellern und Käufern dürfte die Vorteilsanrechnung bleiben. Die Vorteilsanrechnung war auch unter deutschen Gerichten in den Dieselverfahren nicht unumstritten. Einige Instanzgerichte hatten die Anrechnung von Nutzungsvorteilen auf den Schaden der Käufer zunächst abgelehnt, da sie zu einer unangemessenen Entlastung der Hersteller führe (vgl. z.B. LG Halle, Urteil v. 27.06.2019, Az. 9 O 9/18; LG Essen, Urteil v. 19.06.2019, Az. 3 O 439/18). Der BGH hat jedoch mittlerweile klargestellt, dass die Grundsätze der Vorteilsanrechnung in den Dieselverfahren uneingeschränkt Anwendung finden.
Beim großen Schadensersatz, also der Rückabwicklung eines Vertrags, werden daher die Vorteile aus der Nutzung eines Fahrzeugs auf den zurückzugewährenden Kaufpreis angerechnet und zwar selbst dann, wenn der Schaden des Käufers durch den Nutzungsvorteil vollständig aufgezehrt wird (vgl. BGH, Urteil v. 30.7.2020, Az. 8 O 1280/21). Beim kleinen Schadensersatz, also dem Ausgleich für den Minderwert des Fahrzeugs, werden nachträgliche Aufwertungen des Fahrzeugs durch die Hersteller, z.B. technische Nachrüstungen, schadensmindernd berücksichtigt (BGH, Urteil v. 6.7.2021, Az. VI ZR 40/20). In der Praxis ist die Vorteilsanrechnung für die Hersteller von hoher Bedeutung, führt sie doch zu einer erheblichen Reduzierung der zu erstattenden Schäden.
Der EuGH hat die Tür für die Vorteilsanrechnung offengelassen und den nationalen Gerichten explizit zugestanden, im Rahmen der Schadensberechnung dafür Sorge zu tragen, dass die Unionsbestimmungen nicht zu einer unberechtigten Bereicherung der Käufer führten (Rz. 94). Allerdings hat sich der EuGH hier eine Hintertür offengelassen: Die Befugnis der nationalen Gerichte steht unter dem Vorbehalt, dass es den Betroffenen nicht unangemessen erschwert oder praktisch unmöglich gemacht wird, einen „angemessenen“ Ersatz ihres Schadens zu erhalten (Rz. 93). Damit steht die deutsche Judikatur zur Schadenshöhe unter einem allgemeinen europäischen Angemessenheitsvorbehalt und der EuGH wird auch im Punkt Vorteilsanrechnung faktisch zur letzten Instanz.
Daher ist zu erwarten, dass der eigentlich schon entschieden geglaubte Streit um die Vorteilsanrechnung an der schwer zu bestimmenden Linie der Angemessenheit des Schadens neu entbrennt. Hilfreich könnte hier eine Vorlage des Landgerichts Erfurt an den EuGH aus dem Jahr 2020 werden, in der das Landgericht explizit nach der Zulässigkeit der Nutzungsanrechnung fragt (Az. C-276/20). Das Verfahren ist noch anhängig. Es wäre zu begrüßen, wenn der EuGH diese Vorlage nutzt, um seine abstrakten Aussagen zur Angemessenheit des Schadens und zur Vorteilsanrechnung zu konkretisieren und so für alle Beteiligten mehr Rechtssicherheit zu schaffen.
Weiteres Ringen ums Verschulden
Mit dem Verschulden der Hersteller mussten sich die deutschen Gerichte im Rahmen von § 823 Abs. 2 BGB bislang vergleichsweise wenig beschäftigen, da die Prüfung zumeist mit der Feststellung des fehlenden Drittschutzes des Genehmigungsrechts endete. Aber ist die Hürde des Drittschutzes erst einmal genommen, wird auch die Frage des Verschuldens virulent. Und hier stellen sich nach dem Urteil des EuGH ähnliche Fragen wie bei der Vorteilsanrechnung.
Man kann den Einwand nicht von der Hand weisen, dass bei den Thermofenstern keine Typengenehmigungen des Kraftfahrtbundesamts „erschummelt“ wurden, sondern dass das Kraftfahrtbundesamt die Genehmigungen der Fahrzeuge in Kenntnis der Thermofenster-Software erteilt hat. Daraus haben bereits einige Oberlandesgerichte auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum der Hersteller geschlossen, der das für die Haftung erforderliche Verschulden der Hersteller entfallen lasse (so z.B. OLG Stuttgart, Urteil v. 21.12.2022, Az. 23 U 492/21; OLG Köln, Urteil v. 19.01.2023, Az. 18 U 110/21).
Nach dem Urteil des EuGH ist aber auch beim Verschulden zu beachten, dass den Betroffenen der Erhalt eines „angemessenen“ Schadens nicht praktisch unmöglich gemacht werden darf. Und eben dieser europarechtliche „Fallstrick“ könnte der zitierten Rechtsprechung zum Verhängnis werden. Denn die Annahme eines unvermeidbaren Verbotsirrtums der Hersteller würde im Ergebnis dazu führen, dass der Schadensersatzanspruch der Kunden in praktisch allen Thermofenster-Fällen am fehlenden Verschulden der Hersteller scheitert. Wäre damit dann noch einer effektiven Umsetzung des Unionsrechts genügt? Oder würde den Käufern die Erlangung eines angemessenen Schadens praktisch unmöglich gemacht?
Das Gegenargument der Hersteller ist ebenso klar wie nachvollziehbar. Ein Recht der Kunden auf einen angemessenen Schadensersatz immer und unter allen Umständen liefe im Ergebnis auf eine verschuldensunabhängige Garantiehaftung der Hersteller hinaus, die sich weder aus dem zugrundeliegenden Genehmigungsrecht noch aus dem europäischen Effektivitätsgrundsatz ableiten lässt.
Somit zeichnen sich bereits die nächsten Kontroversen ab, zu denen sich der EuGH äußern und die Debatte in Deutschland ein weiteres Mal befeuern könnte. Denn wenn eines nach der Entscheidung des EuGH klar ist, dann, dass nichts „clair“ ist.
Die Autorin dieses Beitrags ist Dr. Anne Grunwald.
Einer der Schwerpunkte der Dispute Resolution Praxis von PwC Legal ist die Vertretung von Unternehmen bei der Abwehr von Kollektiv- und Massenklagen, wobei auch state-of-the-art Legal Tech-Lösungen zum Einsatz kommen. Insbesondere bei dem schon bislang vorgesehenen Instrument des kollektiven Rechtsschutzes im deutschen Recht – der Musterfeststellungsklage – hat das Dispute Team umfangreiche Praxiserfahrungen. Gleiches gilt für die Abwehr von Verbandsklagen nach dem UKlaG.