Arbeits- und Sozialversicherungsrecht

Massenentlassungsanzeige ohne die „Soll-Angaben“ nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG führt zur Unwirksamkeit der Kündigung

Verfasst von

Patrick Kominiak

LAG Hessen, Urteil vom 25.06.2021, Aktenzeichen 14 Sa 1225/20

Der vom LAG Hessen am 25. Juni 2021 entschiedene Rechtsstreit betraf die an eine Massenentlassungsanzeige nach § 17 Abs. 3 KSchG zu stellenden Anforderungen. Laut Rechtsprechung des LAG muss die Anzeige an die Bundesagentur für Arbeit unter anderem auch die sogenannten „Soll-Angaben“ über Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer enthalten.

Sachverhalt

Die Klägerin war bei der Beklagten seit dem 1. April 1998 zuletzt als Arbeitnehmerin im Processing tätig. Die Beklagte beschäftigte regelmäßig 37 in dem Betrieb, in welchem die Klägerin arbeitete.

Innerhalb eines Monats kündigte die Beklagte davon insgesamt 17 Arbeitsverhältnisse, inklusive das der Klägerin. Zuvor hatte die Beklagte der Bundesagentur für Arbeit eine Massenentlassungsanzeige übermittelt.  In dieser waren jedoch nicht die in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG genannten Angaben zum Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer enthalten.

Die Klägerin vertrat die Ansicht, die ausgesprochene Kündigung sei aufgrund fehlender Angaben in der Massenentlassungsanzeige unwirksam.

Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main stellte mit Urteil vom 16. September 2020 fest, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die Kündigung der Beklagten aufgelöst wurde. Das Arbeitsgericht begründete dies damit, dass die Massenentlassungsanzeige der Beklagten nicht die Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG enthalten habe, welche der Arbeitgeber nach dem Gesetzeswortlaut angeben „soll“.

Entscheidung

Die Berufung der Beklagten vor dem LAG Hessen blieb ohne Erfolg. Das LAG hielt das Urteil des Arbeitsgerichtes Frankfurt am Main aufrecht und bestätigte die Unwirksamkeit der Kündigung durch die Beklagte.

Das LAG Hessen führte zunächst aus, dass § 17 Abs. 3 KSchG die Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 10. Juni 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden: MERL) umsetze. Folglich bedürfe die deutsche Umsetzungsnorm einer richtlinienkonformen Auslegung.

Im Rahmen der Auslegung stellte das LAG in seiner Entscheidung unter anderem auf den Sinn und Zweck des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 MERL ab. Dieser beinhaltet die Vorgabe, dass die Massenentlassungsanzeige alle Angaben enthalten muss, die zweckdienlich sind.

Die Massenentlassungsanzeige solle laut dem LAG Hessen zum einen die zuständige Behörde rechtzeitig über die bevorstehenden Entlassungen einer größeren Anzahl von Arbeitnehmern vorbereiten, damit die Behörde ihre Vermittlungsbemühungen darauf einstellen könne. Ferner betreffe die MERL die sozioökonomischen Auswirkungen, die Massenentlassungen in einem bestimmten örtlichen Kontext und einer bestimmten sozialen Umgebung hervorrufen können. Sowohl hinsichtlich der zu entfaltenden Vermittlungsbemühungen als auch hinsichtlich der sozioökonomischen Auswirkungen hätten die Merkmale Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer eine wesentliche Bedeutung.

Einer derartigen Auslegung steht nach Ansicht des Gerichtes auch die Gesetzessystematik nicht entgegen, insbesondere nicht die Tatsache, dass § 17 Abs. 3 S. 4 KSchG als „Muss-Vorschrift“ formuliert ist. Diese Norm führt folgende Angaben auf, welche der Arbeitgeber mitteilen muss:

  • Name des Arbeitgebers
  • Sitz und Art des Betriebes
  • Gründe für die geplanten Entlassungen
  • Zahl und Berufsgruppen der zu entlassenden und der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer
  • Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen
  • Vorgesehene Kriterien für die Sozialauswahl

Diese „Muss-Angaben“ lägen allesamt in der Sphäre des Arbeitgebers selbst, so dass diese Angaben ihm nicht mangels Kenntnis unmöglich sein können. Anders sei dies bei den „Soll-Angaben“ aus § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG.

Auch unter Verweis auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes sei die richtlinienkonforme Auslegung von § 17 Abs. 3 KSchG geboten. Denn in der Begründung des Gesetzesentwurfes der Bundesregierung vom 19.10.1977 wird ausdrücklich ausgeführt, der Arbeitgeber habe in seiner Anzeige Geschlecht, Alter, Beruf und Staatsangehörigkeit der zu entlassenden Arbeitnehmer anzugeben, weil die Vermittlungsfähigkeit der betroffenen Arbeitnehmer und die zu ihrer Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt vorzusehenden Maßnahmen im Wesentlichen von diesen Faktoren abhingen. Ihre Angabe bereits in der Entlassungsanzeige erweitere die Möglichkeiten der zuständigen Behörde. Die Begründung des Regierungsentwurfs gehe damit erkennbar davon aus, dass die in § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG genannten Angaben für eine erfolgreiche Vermittlung zielführend seien.

Die Ausgestaltung des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG gleichwohl als „Soll-Vorschrift“ begründete das LAG Hessen damit, dass der Arbeitgeber diese Angaben häufig noch nicht machen könne, etwa um die Verhandlungen mit dem Betriebsrat nicht durch vorzeitige Festlegungen zu belasten. Der Begründung des Gesetzesentwurfs sei hingegen nicht zu entnehmen, dass das vollständige Unterlassen der „Soll-Angaben“ auch dann sanktionslos bleiben soll, wenn sie dem Arbeitgeber ohne weiteres möglich sind.

Das Fehlen der Angaben in der Massenentlassungsanzeige könne nach dem LAG Hessen auch nicht dadurch geheilt werden, dass die Bundesagentur für Arbeit die Vollständigkeit der Massenentlassungsanzeige bestätigt und das Fehlen der „Soll-Angaben“ nicht beanstandet.

Abschließend sprach das LAG der Beklagten ihren Vertrauensschutz ab. Denn es gebe keine höchstrichterliche Rechtsprechung zu der Frage der Rechtsfolgen unterbliebener Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG. Weiterhin obliege die Gewährung von Vertrauensschutz im Anwendungsbereich des Unionsrechts dem Europäischen Gerichtshof, da die MERL und das KSchG unionsrechtlich auszulegen seien.

Auswirkungen auf die Praxis

Das LAG Hessen geht davon aus, dass eine unwirksame Kündigung vorliegt, wenn nicht auch die „Soll-Angaben“ des § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG bei einer Massenentlassungsanzeige angegeben werden und interpretiert die „Soll-Angaben“ damit faktisch in „Muss-Angaben“ um. Das LAG legt dem Arbeitgeber die Darlegungslast für den Nachweis auf, dass es ihm nicht möglich war, diese Angaben zu recherchieren, wenn er sie bei einer Massenentlassungsanzeige weglässt. Gelingt ihm dies nicht, sind die ausgesprochenen Entlassungen unwirksam. Es ist fraglich, ob diese Rechtsfolge in einem angemessenen Verhältnis zu dem Sinn und Zweck von § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG steht.

Festhalten lässt sich jedoch, dass das Urteil für Arbeitgeber ein erhöhtes Maß an Rechtsunsicherheit schafft. Denn es steht im Widerspruch zu der gängigen Literaturansicht, der übrigen Rechtsprechung sowie den Ausfüllanweisungen der Bundesagentur für Arbeit. Letztere sehen ausdrücklich die Möglichkeit der Nachreichung der Angaben nach § 17 Abs. 3 S. 5 KSchG vor.

Arbeitgebern ist aus Gründen der Vorsicht geraten, künftig in jeder Massenentlassungsanzeige auch die Soll-Angaben mitzuteilen oder diese nachzureichen, bevor die betroffenen Arbeitnehmer entlassen werden. Dies gilt jedenfalls, bis eine höchstrichterliche Entscheidung zu dieser Rechtsfrage ergangen ist. Die Revision ist aktuell bei dem Bundesarbeitsgericht (Aktenzeichen: 2 AZR 424/21) anhängig.