EuGH zu Ausgleichsleistungen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen im ÖPNV
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 8. September 2022 (Rs. C-614/20) in einem Vorabentscheidungsersuchen allgemeingültige Aussagen zur Definition der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung nach der Verordnung (VO) 1370/2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße sowie zur Notwendigkeit einer Ausgleichsleistung für die Erbringung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen getroffen.
Das Ausgangsverfahren
Der Ausgangsrechtsstreit betraf die Klage der Lux Express Estonia gegen die Republik Estland auf Zahlung von Schadensersatz für entgangene Gewinne in Höhe von rund 850.000 €. Der Schaden sei der privaten Lux Express Estonia, die in Estland gewerbliche Busverkehrsdienste im Linienbetrieb erbringt, durch eine gesetzliche Regelung entstanden, die eine Verpflichtung zur unentgeltlichen und ausgleichsfreien Beförderung von Kindern sowie bestimmten Personen mit Behinderung vorsah.
Lux Express Estonia argumentierte im Ausgangsverfahren, dass es sich bei dieser gesetzlichen Verpflichtung um eine gemeinwirtschaftliche Verpflichtung i.S.d. Art. 1 Abs. 1 der VO 1370/2007 handele. Aus der VO 1370/2007 ergebe sich unmittelbar, dass die Mitgliedstaaten für die Erfüllung entsprechender Verpflichtungen einen Ausgleich leisten müssten.
Das beklagte estnische Ministerium machte hingegen geltend, dass die VO 1370/2007 auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar sei, da kein öffentlicher Dienstleistungsauftrag vorläge. Außerdem erlaube es Art. 3 Abs. 3 VO 1370/2007, bestimmte Fälle vom Anwendungsbereich dieser Verordnung auszunehmen und die VO 1370/2007 schreibe nicht zwingend einen Ausgleich für den Beförderer vor.
Die Vorlagefragen
Von den fünf vorgelegten Fragen behandelt dieser Beitrag nur die Vorlagefragen eins, zwei und fünf, da die dritte Vorlagefrage vom EuGH als unzulässig abgewiesen wurde und die vierte Vorlagefrage aufgrund der Feststellungen zu den vorhergehenden Fragen vom EuGH nicht beantwortet werden musste.
Mit der ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die gesetzliche Verpflichtung der Busunternehmen zur unentgeltlichen Beförderung bestimmter Gruppen von Fahrgästen eine „gemeinwirtschaftliche Verpflichtung“ i.S.v. Art. 2 Buchstabe e) der VO 1370/2007 ist.
Sollte die VO 1370/2007 auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar sein, stellt das vorlegende Gericht zweitens die Frage, ob ein Mitgliedstaat die Gewährung einer Ausgleichsleistung für die Erbringung einer gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchstabe b) Ziff. i) VO 1370/2007 aufgrund eines nationalen Gesetzes ausschließen kann.
Fünftens möchte das vorlegende Gericht wissen, welche Voraussetzungen es bei der Bestimmung der Höhe der Ausgleichsleistung zu berücksichtigen hat, damit diese beihilferechtskonform ist.
Das Urteil des EuGH
Zur ersten Vorlagefrage kommt der EuGH vorbehaltlich der abschließenden Entscheidung durch das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis, dass das estnische Gesetz eine „gemeinwirtschaftliche Verpflichtung“ i.S.v. Art. 2 Buchstabe e) VO 1370/2007 vorschreibt. Es sei davon auszugehen, dass die in dem estnischen Gesetz festgelegte Verpflichtung von einer zuständigen Behörde im Rahmen einer allgemeinen Vorschrift i.S.d. VO 1370/2007 gerade mit dem Ziel der Sicherstellung von im allgemeinen Interesse liegenden öffentlichen Personenverkehrsdiensten auferlegt wurde. Zudem geht der EuGH davon aus, dass ein Unternehmen diese Pflicht nicht aus eigenem wirtschaftlichem Interesse übernommen hätte.
Zur zweiten Vorlagefrage stellt der EuGH ausdrücklich fest, dass ausweislich des Wortlautes des Art. 3 Abs. 2 S. 2 der VO 1370/2007 („gewährt“) im Fall der Auferlegung einer gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung eine Pflicht zur Gewährung von Ausgleichsleistungen bestehe. Dies stehe auch mit der Historie sowie den Zielen der einschlägigen Unionsvorschriften im Einklang. Nach Ansicht des EuGH deute außerdem nichts darauf hin, dass der Unionsgesetzgeber mit Art. 4 Abs. 1 Buchstabe b) Ziff. i) VO 1370/2007 eine Ausnahme von dem Grundsatz einer Ausgleichspflicht normieren wollte.
Auch im Hinblick auf die fünfte Vorlagefrage betont der EuGH zunächst die grundsätzliche Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts, zu prüfen und sicherzustellen, dass die Ausgleichsleistung auf den finanziellen Nettoeffekt aus der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung beschränkt ist. Offenbar vor diesem Hintergrund stellt der EuGH im Weiteren fest, dass dieser Nettoeffekt nicht zwangsläufig dem entgangenen Gewinn beim Verkauf von Fahrkarten entspreche. Die unentgeltliche Beförderung von Fahrgästen nehme dem betreffenden Verkehrsunternehmen nämlich nur dann die Möglichkeit, zahlende Fahrgäste zu befördern, wenn für die letztgenannten Fahrgäste kein Platz mehr bleibt. Abschließend konstatiert der EuGH sodann vage, dass sich die zusätzlichen Kosten, die dem Betreiber durch die unentgeltlich zu befördernden Fahrgäste entstehen, als geringfügig erweisen können.
Fazit und Folgen für die Praxis
Das Urteil schafft insbesondere im Hinblick auf die vom EuGH festgestellte Pflicht der Mitgliedstaaten, Ausgleichsleistungen für die Erbringung von gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen i.S.d. VO 1370/2007 zu gewähren, Rechtsklarheit. Ebenso sind die klarstellenden Ausführungen des EuGH zur Definition der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung zu begrüßen, nach denen es zum einen insbesondere auf die Zielsetzung sowie zum anderen darauf ankommt, dass ein Unternehmen diese Pflicht nicht aus eigenem wirtschaftlichem Interesse übernommen hätte.
Leider bleibt der EuGH im Gegensatz hierzu im Hinblick auf die Bemessung der Ausgleichsleistung klare Vorgaben schuldig. Fest steht demnach zwar, dass der ausgleichsfähige Nettoeffekt der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung nicht zwangsläufig dem entgangenen Gewinn beim Verkauf von Fahrkarten entspricht. Offen bleibt jedoch weiterhin, wie genau der Nettoeffekt in diesen Fällen zu bestimmen ist. Insoweit ist insbesondere die Feststellung des EuGH, dass sich die zusätzlichen Kosten, die dem Betreiber durch die unentgeltlich zu befördernden Fahrgäste entstehen, als geringfügig erweisen können, wenig hilfreich, da der unbestimmte Begriff „geringfügig“ in der Praxis zu Abgrenzungs- und Definitionsproblemen führen wird. Auch in dieser Hinsicht wäre daher eine weitere Klarstellung durch den EuGH wünschenswert gewesen.