Kartell-, Vergabe- und Beihilfenrecht

EuGH fordert eine restriktive Auslegung der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung

Die EU-Kommission hat verschiedene Gruppen von Beihilfen festgelegt, die unter bestimmten Voraussetzungen von der grundsätzlichen Anmelde- und Genehmigungspflicht des Art. 108 Abs. 3 AEUV freigestellt sind. Diese sind in der Allgemeinen Gruppenfreistellungverordnung (AGVO) normiert. Erst zu Beginn dieses Jahres hat sich die EU-Kommission entschieden, die Geltungsdauer der AGVO um zwei Jahre zu verlängern (Pressemitteilung der EU-Kommission vom 8. Januar 2019).

Die AGVO ist zwar ein in der Praxis gern gesehenes Instrumentarium; ihre Auslegung wirft indes eine Reihe von Fragen auf, die zunehmend die EU-Kommission und die europäischen Gerichte beschäftigen. Die Urteile des EuGH in den Sachen „Eesti Pagar“ (Rs. C-349/17) und „BMW“ (Rs. C-654/17 P) sind insoweit besonders aufschlussreich.

Der EuGH hat in der Rechtssache „Eesti Pagar“ nun klargestellt, dass die Voraussetzungen der AGVO als Ausnahme von der grundsätzlichen Anmeldepflicht (Notifizierungspflicht) von Beihilfen eng auszulegen sind. Die Freistellungswirkung der AGVO greife nur, wenn alle Voraussetzungen zweifelsfrei erfüllt sind. Die Beurteilung, ob eine Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist, obliege ausschließlich der EU-Kommission. Hinsichtlich einer etwaigen Prüfung durch die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der AGVO komme den nationalen Stellen keine endgültige Entscheidungsbefugnis zu. Vielmehr sei die Entscheidungsbefugnis der nationalen Stellen der eines potenziellen Beihilfeempfängers gleichgestellt. Diese Rechtsauffassung hat der EuGH in dem Rechtsmittelverfahren „BMW“ (Rs. C-654/17 P) bestätigt.

Zu den Hintergründen

Fall „Eesti Pagar“

Im Oktober 2008 stellte das estnische Unternehmen Eesti Pagar einen Antrag auf Gewährung einer Beihilfe für die Anschaffung und Installation einer Brotfertigungslinie. Der Kaufvertrag wurde jedoch bereits im August 2008 unter der aufschiebenden Bedingung der anteiligen Kaufpreiszahlung geschlossen. Unter Berufung auf den fehlenden formellen Anreizeffekt (Art. 8 Abs. 2 AGVO a. F.), wonach die Stellung des Beihilfeantrags vor Beginn des Vorhabens oder der Tätigkeit erfolgen muss, forderte die nationale Stelle die gewährte Beihilfe zuzüglich sog. Rechtswidrigkeitszinsen zurück. Nach erfolglosem Widerspruch erhob Eesti Pagar hiergegen Klage. Das zuständige Gericht zweiter Instanz legte dem EuGH ein Vorabentscheidungsersuchen vor. Dies betraf u.a. die Auslegung des Art. 8 Abs. 2 AGVO a.F sowie Fragen des Vertrauensschutzes und der Rückforderungsverjährung.

Rechtsmittelverfahren „BMW“

Die Bundesregierung meldete bei der EU-Kommission Investitionsbeihilfen zu Gunsten des Automobilherstellers BMW in Höhe von ca. 45 Mio. EUR zur Errichtung einer Produktionsanlage zur Herstellung von Elektroautos in Leipzig an. Die EU-Kommission genehmigte unter Berufung auf den fehlenden sogenannten materiellen Anreizeffekt nur Beihilfen in Höhe von 17 Mio. EUR. Darüber hinausgehende Beihilfen seien nicht notwendig und daher nicht genehmigungsfähig. Die Entscheidung der EU-Kommission wurde vom EuG erstinstanzlich bestätigt. Diese Entscheidung griff BMW im Rechtsmittelverfahren an. Der EuGH hat nunmehr die Auffassung des EuG und der EU-Kommission bestätigt.

Restriktive Auslegung der AGVO

Die AGVO vereinfacht die Prozesse der Gewährung von legitimierten Beihilfen, verlangt aber im Gegenzug eine hohe Transparenz und Überwachung. Sie stellt eine weitreichende Ausnahme von der grundsätzlichen Anmeldepflicht staatlicher Beihilfen dar. Damit einhergehen darf keineswegs eine pauschale und extensive Anwendung der in der AGVO normierten Freistellungstatbestande. Vor diesem Hintergrund betonte, dass die AGVO und die in ihr vorgesehenen Voraussetzungen eng auszulegen sind. Dies ist insbesondere auch bei der Prüfung des formellen und materiellen Anreizeffekts von Beihilfen zu berücksichtigen (Art. 8 Abs. 2 AGVO a. F.).

Im Fall Eesti Pagar hat der EuGH klargestellt, dass für das Vorliegen des formellen Anreizeffekts, wonach der Beihilfenantrag vor Beginn des Vorhabens gestellt werden muss, allein entscheidend ist, ob der Beihilfeempfänger vor Antragstellung eine bedingungslose und rechtsverbindliche Verpflichtung eingegangen ist. Auf wirtschaftliche Erwägungen kommt es hierbei nicht an.

Der EuGH hat ausgeführt, dass es nicht Aufgabe der nationalen Stellen sein kann, zu prüfen, ob tatsächlich ein Anreizeffekt der in Rede stehenden Beihilfe gegeben ist. Eine Überprüfung kann im Einzelfall eine komplexe wirtschaftliche Beurteilung erfordern. Die Zielsetzung der AGVO, einfache und klar anzuwendende Voraussetzungen zu schaffen, wäre damit nicht erfüllt. Daher kann es nur Sache der nationalen Stellen sein, zu überprüfen, ob vor Beginn des Vorhabens oder der Tätigkeit ein Antrag gestellt wurde.

Im Mittelpunkt des BMW-Falles stand die Frage des materiellen Anreizeffekts. Der Anreizeffekt ist eng mit der Notwendigkeit der Beihilfe verknüpft. Um Mitnahmeeffekte zu verhindern, verlangt dieser, dass die Beihilfe für die Investitions- und Standortentscheidung ausschlaggebend gewesen sein muss. Kann dies nur für einen Teilbetrag der Beihilfesumme angenommen werden, ist die Beihilfe nur in dieser Höhe mit dem Binnenmarkt vereinbar. Die gegenüber BMW gewährten Beihilfen mussten nach Auffassung des EuGH daher auf das Minimum beschränkt werden, das erforderlich war, um etwaige Standortnachteile am Förderstandort Leipzig auszugleichen. Genehmigungsfähig waren lediglich die (Mehr-)Kosten, die im Vergleich zu einer Investition an einem Alternativstandort anfielen. Ein Anspruch auf Ausschöpfung der Beihilfe bis zur Höhe der in der AGVO normierten Anmeldeschwelle besteht nicht.

Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Rückforderung rechtswidriger Beihilfen zzgl. Zinsen

Sind die Voraussetzungen der AGVO nicht vollständig erfüllt oder stellt sich eine Beihilfe aus anderen Gründen als (materiell) rechtswidrig heraus, sind die beihilfegewährenden Stellen in den Mitgliedstaaten verpflichtet, unverzüglich nach Kenntnis der Rechtswidrigkeit einer Beihilfe diese nebst Zinsen seit Gewährung zurückzufordern.

Der Beihilfeempfänger kann einem solchen Rückforderungsverlangen nicht entgegenhalten, dass er durch die positive Entscheidung der beihilfegewährenden Stelle ein berechtigtes Vertrauen in die Rechtmäßigkeit der Beihilfe erlangt habe. Auch mit der Einführung der AGVO verbleibt das Entscheidungsmonopol über die Frage der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt bei der EU-Kommission. Bei Vorliegen sämtlicher Voraussetzungen der AGVO bestehe daher allenfalls eine Vermutungswirkung dahingehend, dass die Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist.

In der Rechtssache „Eesti Pagar“, in der die Beihilfe aus einem Strukturfonds gewährt wurde, hat der EuGH die national geltenden Verjährungsfristen und nicht die für Rückforderungsbegehren der EU-Kommission geltende Verjährungsfrist von zehn Jahren (VO (EU) 2015/15893) für anwendbar erklärt.

Fazit

Beide Urteile verdeutlichen abermals, dass eine rechtssichere Freistellung von der Notifizierungspflicht bei auf Grundlage der AGVO gewährten Beihilfen nur dann gegeben ist, wenn alle Voraussetzungen der AGVO unzweifelhaft vorliegen. Ferner bestätigt es den bereits in dem Alcan II Urteil des EuGH (Rs. C-24/91) aufgestellten Grundsatz, dass das Verhalten der nationalen Behörden im Hinblick auf Angelegenheiten des Unionsrechts, insbesondere des EU-Beihilfenrechts, keinen Vertrauensschutz zu Gunsten des Beihilfeempfängers vermitteln. Für die Praxis hat dies zur Folge, dass die Vorschriften der AGVO künftig restriktiv ausgelegt werden müssen. Dies gilt insbesondere, wenn der zu beurteilende Sachverhalt nicht eindeutig einem der in der AGVO normierten Freistellungstatbestände zugeordnet werden kann. Die Urteile des EuGH betonen zugleich die Tendenz der europäischen Institutionen, einer allzu leichtfertigen Anwendung der AGVO entgegenzuwirken. Auch in Zukunft ist mit entsprechenden Mahnungen der europäischen Gerichte zu rechnen. Im Hinblick auf die weitreichenden Folgen einer Rückforderung von Beihilfen, die auf Grundlage der AGVO legitimiert werden, ist zukünftig besondere Vorsicht geboten.