EuG-Urteil zur wirtschaftlichen Kontinuität bei der Rückforderung rechtswidriger Beihilfen
Das Gericht der Europäischen Union (EuG) hat mit Urteil vom 24.09.2019 (T-121/15) die Klage des Chemieunternehmens Fortischem s.a. gegen einen Beschluss der EU-Kommission (SA. 33797) abgewiesen. Die EU-Kommission hat in dem Beschluss die slowakische Regierung verpflichtet, rechtswidrig gewährte staatliche Beihilfen von dem slowakischen Chemieunternehmen NCHZ und Fortischem, als seinem Rechtsnachfolger, zurückzufordern. Gegenstand der Entscheidung ist u.a. die praxisrelevante Frage der wirtschaftlichen Kontinuität zwischen Unternehmen und die daraus folgende Erstreckung der Rückzahlungsverpflichtung auf Erwerber von Vermögenswerten im Fall der Rückforderung rechtswidrig gewährter Beihilfen.
Hintergrund
NCHZ war ein slowakischer Chemiekonzern, der im Oktober 2009 Insolvenz anmeldete. Im November 2009 verabschiedete die slowakische Regierung das Gesetz Nr. 493/2009 für sog. „strategische Unternehmen“. Dieses fand Anwendung auf Unternehmen von besonderer Bedeutung für die Slowakei, die sich in der Insolvenz befanden. Das Gesetz verpflichtete u.a. den Insolvenzverwalter eines „strategischen Unternehmens“, den Betrieb des Unternehmens unabhängig von der wirtschaftlichen Lage desselben für die Dauer des Insolvenzverfahrens fortzuführen und keine Entlassungen vorzunehmen.
Die slowakische Regierung erklärte NCHZ zu einem „strategischen Unternehmen“ i.S.d. Gesetzes, was für dessen Anwendung zwingend erforderlich war. NCHZ war das einzige Unternehmen, auf das das Gesetz jemals angewendet wurde. Bis Dezember 2010, Außer-Kraft-Treten des Gesetzes, wurde der Betrieb von NCHZ auf dieser Grundlage fortgeführt. NCHZ konnte auf diese Weise weitere Schulden, insb. gegenüber staatlichen Institutionen wie der slowakischen Sozialversicherung, anhäufen. Ohne Anwendung des Gesetzes wäre ein Unternehmen unter diesen Umständen üblicherweise nicht weiter betrieben worden. Im Januar 2011 entschied die Gläubigerversammlung, den Betrieb des Unternehmens weiter aufrechtzuerhalten und das Unternehmen als „laufenden Betrieb“ zu verkaufen.
NCHZ wurde schließlich in einem offenen Bieterverfahren im Juli 2012 an Via Chem verkauft. Via Chem verkaufte das Hauptgeschäft der NCHZ, die Chemieabteilung, mit Ausnahme der unbeweglichen Vermögenswerte wie Gebäude und Land, nur einen Tag später an Fortischem weiter. Diejenigen unbeweglichen Vermögenswerte, die für den Betrieb des Unternehmens notwendig waren, wurden an Fortischem vermietet bzw. verpachtet.
Beschluss der EU-Kommission
Die EU-Kommission beschloss, dass die Erklärung von NCHZ zum „strategischen Unternehmen“ und damit die Anwendung des Gesetzes für den Zeitraum Dezember 2009 bis Dezember 2010 eine rechtswidrige Beihilfe , die die slowakische Regierung wegen wirtschaftlicher Kontinuität von NCHZ und Fortischem zurückzufordern habe.
Die Erklärung habe zur Folge gehabt, dass es dem Unternehmen möglich war, weitere Schulden bei staatlichen Gläubigern anzuhäufen. Daher sei sie selbst als Übertragung staatlicher Mittel zu werten, die selektiv gewirkt habe.
Die Verpflichtung, das Unternehmen – unabhängig von einer Entscheidung der Gläubigerversammlung und ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche Situation – fortzuführen sowie keine Entlassungen vorzunehmen, stelle einen wirtschaftlichen Vorteil gegenüber Mitbewerbern dar, die der Anwendung des Insolvenzgesetzes unterliegen. Auch sei Kunden und Lieferanten auf diese Weise eine Sicherheit in Bezug auf die Fortführung des Betriebs gegeben worden, die ihrerseits einen weiteren wirtschaftlichen Vorteil darstelle. Die EU-Kommission stellte auch fest, dass die leitenden Erwägungen bei der Erklärung von NCHZ zum „strategischen Unternehmen“ nicht den Anforderungen des MECP („Market Economy Creditor Principle“) entsprachen. Darüber hinaus nahm sie eine Wettbewerbsverfälschung und Binnenmarktrelevanz dieser Vorteile und damit eine staatliche Beihilfe an, die nicht gerechtfertigt und daher zurückzufordern war.
Die EU-Kommission verfügte, dass die Rückzahlungsverpflichtung auf Fortischem zu erstrecken ist, weil zwischen NCHZ und Fortischem wirtschaftliche Kontinuität bestehe. Da Via Chem den Betrieb nie geführt hat, hat die EU-Kommission diesen Übertragungsakt außer Betracht gelassen. Sie begründete ihre Entscheidung zum Bestehen wirtschaftlicher Kontinuität insb. mit dem Umfang der Übertragung und der fehlenden wirtschaftlichen Folgerichtigkeit der Übernahme. Die konkrete Ausgestaltung des Bieterverfahrens, u.a. die Beschränkung auf den Erwerb im Ganzen, begründeten außerdem Zweifel daran, dass Via Chem einen Marktpreis für die Übernahme von NCHZ bezahlt habe. Dies wirke sich automatisch auch auf den von Fortischem bezahlten Preis aus.
Das Urteil des EuG
Das EuG hat die Klage von Fortischem abgewiesen und damit den Beschluss der EU-Kommission bestätigt.
Zunächst billigt das EuG die Feststellungen der EU-Kommission zum Vorliegen der Beihilfe vollumfänglich. Insbesondere sei die Bewertung der EU-Kommission einwandfrei, in der Erklärung zum „strategischen Unternehmen“ einen wirtschaftlichen Vorteil zu sehen.
Auch die Annahmen der EU-Kommission hinsichtlich der wirtschaftlichen Kontinuität zwischen NCHZ und Fortischem seien nicht zu beanstanden. Die EU-Kommission habe ihre Feststellung der wirtschaftlichen Kontinuität auf Kriterien gestützt, die in der Rechtsprechung anerkannt sind. Zu diesen Kriterien zählen der Umfang der Übertragung, der Preis, die Identität der Aktionäre oder Eigentümer des Verkäufers und Käufers, der Zeitpunkt der Übertragung und die ökonomische Folgerichtigkeit der Übertragung.
Zwar bestätigt das EuG, dass der Umstand, dass der gezahlte Preis nicht dem Marktpreis entspricht, grundsätzlich auch für sich genommen eine wirtschaftliche Kontinuität begründen kann. Es stellt indes zugleich klar, dass ein Marktpreis nicht automatisch eine wirtschaftliche Kontinuität ausschließt. Vielmehr kann die wirtschaftliche Kontinuität auch ausschließlich auf andere der weiteren vier oben dargestellten Kriterien gestützt werden, ohne dass sicher ausgeschlossen werden muss, dass ein Marktpreis gezahlt wurde. Auch im vorliegenden Fall musste die EU-Kommission daher nicht beweisen, dass tatsächlich kein Marktpreis gezahlt wurde.
Abschließend verdeutlicht das EuG, dass es für die Entscheidung der Erweiterung der Rückzahlungsverpflichtung allein auf objektive Kriterien ankommt und eine Absicht zur Umgehung der Rückforderungsanordnung nicht nachzuweisen ist.
Fazit und Folgen für die Praxis
Das Urteil des EuG führt die kritische Linie, die die EU-Kommission und die europäische Rechtsprechung hinsichtlich der Rückforderung von Beihilfen auch von Erwerbern von Vermögenswerten an den Tag legen, konsequent fort. Bei Bestehen wirtschaftlicher Kontinuität wird die Wettbewerbsverzerrung, die durch die rechtswidrig erhaltene Beihilfe entstanden ist, auch beim Verkauf des Unternehmens aufrechterhalten. In dem Entwurf der neuen Rückforderungsmitteilung (2019/C 247/01; Rz. 91) nennt die Kommission für die Bestimmung wirtschaftlicher Kontinuität bei einem „Asset Deal“ dieselben Kriterien, die das EuG in seinem Urteil anführt. Diese einheitliche Festlegung von Beurteilungskriterien schafft Rechtssicherheit für den Anwender.
Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die eindeutige Feststellung des EuG, dass auch die Zahlung eines Marktpreises nicht automatisch zum Ausschluss wirtschaftlicher Kontinuität führt. Auch insoweit besteht Einigkeit mit der EU-Kommission, die in ihrer Rückforderungsmitteilung davon ausgeht, dass es sich bei den genannten Kriterien um „nicht kumulative“ Kriterien handelt und die EU-Kommission nicht verpflichtet ist, all diese Kriterien zu berücksichtigen. Es ist davon auszugehen, dass die europäische Rechtsprechung und die EU-Kommission auch zukünftig allen genannten Kriterien gleiches Gewicht beimessen werden und im Einzelfall auch einzelne Kriterien zur Annahme wirtschaftlicher Kontinuität bzw. zum Ausschluss derselben genügen lassen werden.
Die konsequente Verfolgung des Konzepts der wirtschaftlichen Kontinuität dient dem Ziel, Umgehungen von Rückforderungspflichten durch Übertragungsakte zu verhindern und damit letztlich der Effektivität des Unionsrechts, das ein grundsätzliches Verbot von Beihilfen vorsieht.
Für die Praxis bedeutet dieses Urteil einmal mehr, dass größtmögliche Vorsicht bei der Übertragung und dem Erwerb von beihilfebelasteten Unternehmen walten zu lassen ist, zumal dies zu den Sorgfaltspflichten der Entscheidungsträger gehört.