Poste Italiane: Der EuGH zum Beihilfebegriff des Art. 107 AEUV
Im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens aus Italien hat sich der europäische Gerichtshof abermals mit dem Beihilfebegriff des Art. 107 Abs. 1 AEUV befasst und mit seinem Urteil vom 03.03.2021 (verbundene Rs. C-434/19 und C-435/19, Poste Italiane) zu verschiedenen Fragen, insbesondere zur Zurechenbarkeit der Maßnahmen, zum Begriff der staatlichen Mittel, zur potentiellen Wettbewerbsgefährdung und zu den Altmark-Trans-Kriterien Stellung bezogen.
Er urteilte, dass die gesetzliche Pflicht zur Nutzung eines gebührenpflichtigen Kontos eine staatliche Beihilfe zugunsten der Bank darstellen kann. Die konkrete Prüfung überließ er jedoch dem vorlegenden Gericht.
I. Hintergrund
Die Erhebung der Grundsteuer (imposta comunale sugli immobili, abgekürzt „ICI“) obliegt in Italien den vom Staat betrauten Konzessionären. Diese sind gesetzlich dazu verpflichtet, über ein auf ihren Namen lautendes Girokonto bei der italienischen Postbank (Poste Italiane) zu verfügen, auf das die Steuerpflichtigen einzahlen können. Ausgangspunkt der verbundenen Rechtssachen waren Klagen der Poste Italiane gegen zwei dieser Konzessionäre – die italienische Steuerbehörde (Agenzia delle Entrate) und eine öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaft (Riscossione Sicilia S.p.A) – auf Zahlung der Kontoführungsgebühren. Der italienische Kassationsgerichtshof (corte suprema di cassazione) legte den Fall dem EuGH vor. Dieser hatte zu klären, ob die gesetzliche Regelung, die die Dienstleistung der Kontoführung für die Erhebung der ICI der Poste Italiane vorbehält und dieser die Befugnis zur einseitigen Festlegung der Höhe der Gebühr für die Kontoführung einräumt, mit dem Unionsrecht im Einklang steht.
II. Die Entscheidung des EuGH
Bei der Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens konzentriert sich der EuGH auf die Frage, ob es eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstellt, wenn die mit der Einziehung der ICI betrauten Konzessionäre bei der Poste Italiane über ein auf ihren Namen lautendes Girokonto verfügen und hierfür eine Gebühr entrichten müssen. Dabei ist das Urteil lesenswert, da sich das Gericht fast lehrbuchartig mit den einzelnen Voraussetzungen des Beihilfebegriffs aus Art. 107 Abs. 1 AEUV auseinandersetzt.
Abnahmepflicht ist allein noch keine „Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel“
Eine Maßnahme, beispielsweise ein Gesetz, aufgrund dessen Unternehmen eine Abnahmepflicht oder eine Pflicht zum Erwerb von Dienstleistungen aus eigenen finanziellen Mitteln erfüllen müssen, stellt nach Auffassung des EuGH an sich noch keine staatliche Beihilfe dar.
Zwar bejaht der EuGH eindeutig die Zurechenbarkeit der Maßnahme zum Staat aufgrund der gesetzlichen Regelungen. Die Abnahmepflicht allein bewirke aber grundsätzlich noch keinen Einsatz „staatlicher Mittel“ im Sinne von Art. 107 AEUV.
Anders verhielte es sich dann, wenn die Unternehmen als vom Staat mit der Verwaltung staatlicher Mittel beauftragt anzusehen sind. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn die Mehrkosten, die sich aus dieser Abnahmepflicht oder aus der Pflicht zum Erwerb von Dienstleistungen ergeben, vollständig auf den Endverbraucher abgewälzt werden, für ihre Finanzierung eine vom Mitgliedstaat vorgeschriebene Abgabe erhoben wird oder es einen Mechanismus für ihren vollständigen Ausgleich gibt (Rn. 43).
Mittel öffentlicher Unternehmen könnten auch dann als staatliche Mittel angesehen werden, wenn der Staat durch die Ausübung seines beherrschenden Einflusses auf diese Unternehmen deren Verwendung steuert (Rn. 44). Diese Voraussetzung sei nach den Ausführungen des EuGH nicht erfüllt, wenn sich die Abnahmepflicht nicht aus einem (direkten) staatlichen Eingriff in die Geschäftspolitik der betroffenen Unternehmen, sondern – wie im Fall Poste Italiane – aus einer (indirekt wirkenden) Rechtsvorschrift ergibt (Rn. 47).
Bei der Prüfung, ob die Konzessionäre als vom Staat mit der Verwaltung staatlicher Mittel beauftragte Unternehmen anzusehen sind, berücksichtigte der EuGH, dass die steuererhebenden Gemeinden verpflichtet sind, den Konzessionären für die Erhebung der ICI eine Kommission zu zahlen und diese Beträge eindeutig öffentlichen Ursprungs sind. Allerdings zweifelte der EuGH nichtsdestotrotz an der Qualifizierung der Konzessionäre als vom Staat mit der Verwaltung staatlicher Mittel beauftragte Unternehmen.
Grund hierfür sei, dass auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist, dass die zu zahlenden Kommissionen die Mehrkosten, die sich aus der Verpflichtung der Kommissionäre, über ein Girokonto bei Poste Italiane zu verfügen, ausgleichen sollen. Da aber der EuGH keine unmittelbare Prüfung des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens vornehmen kann, hat er mit der hiesigen Entscheidung dem vorlegenden Gericht aufgetragen zu prüfen, ob die mit der Erhebung der Steuer betrauten Konzessionäre vom Staat mit der Verwaltung staatlicher Mittel beauftragte Unternehmer sind.
Für potentielle Handelsbeeinträchtigung und Wettbewerbsverfälschung keine Teilnahme am Handel zwischen den Mitgliedstaaten nötig
Für die Voraussetzungen der Handelsbeeinträchtigung und der Wettbewerbsgefährdung hält der EuGH an seiner weiten Auslegung fest: Es sei nicht notwendig, dass die Beihilfe den Handel zwischen den Mitgliedstaaten tatsächlich beeinträchtigt und zu einer Wettbewerbsverzerrung führt; es genüge, dass die Beihilfe dazu geeignet ist (Rn. 67). Von einer potentiellen Handelsbeeinträchtigung könne andererseits nicht erst dann ausgegangen werden, wenn das begünstigte Unternehmen selbst am Handel zwischen den Mitgliedstaaten teilnimmt. Wenn nämlich ein Mitgliedstaat Unternehmen eine Beihilfe gewährt, könne die inländische Tätigkeit dadurch beibehalten oder verstärkt werden, so dass sich dadurch die Chancen der in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Unternehmen, in den Markt dieses Mitgliedstaats einzudringen, verringere (Rn. 68).
Der EuGH kommt zu dem Ergebnis, dass – vorbehaltlich der Prüfung durch das nationale Gericht – nicht ausgeschlossen werden könne, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelungen geeignet sind, sowohl den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen als auch den Wettbewerb zu verfälschen. Es bleibt aber auch hier letztendlich Sache des vorlegenden Gerichts, die Auswirkungen auf die Tätigkeit von Poste Italiane und der anderen Bankinstitute zu beurteilen.
Altmark-Trans-Kriterien: Kontoführung keine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse
Der EuGH hat die Kriterien dafür, dass eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) nicht als Begünstigung und damit als Beihilfe eingestuft wird, in Altmark Trans (Urteil vom 25.07.2003, Rs. C-280/00) definiert und nochmals bestätigt. Voraussetzung sei unter anderem ein hoheitlicher Betrauungsakt, der Art und Tragweite der entsprechenden Leistungen hinreichend genau definiert.
Dem vorlegenden Gericht folgend unterscheidet der EuGH zwischen zwei Verhältnissen: Zum einen das öffentlich-rechtliche Verhältnis zwischen der Gemeinde als Steuerbehörde und den mit der Steuererhebung betrauten Konzessionären, verbunden durch eine per Vergabeverfahren erteilte Verwaltungskonzession (hier DAWI); zum anderen das privatrechtlichen Verhältnis zwischen diesen Konzessionären und Poste Italiane aufgrund der Verpflichtung, für die Erhebung der ICI ein Postgirokonto zu führen und hierfür eine Gebühr zu entrichten (Rn. 60). Gegenüber den Konzessionären, also im zweiten Verhältnis, sei Poste Italiane nicht formell verpflichtet, bestimmte Leistungen als gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen unter Bedingungen, die ihre Art und Tragweite hinreichend genau definieren, zu erbringen (Rn. 61). Sie unterliege lediglich den Verpflichtungen, die allgemein für den Sektor der Bankdienstleistungen gelten (Rn. 62). Im relevanten Verhältnis liege also keine DAWI im Sinne der Altmark-Trans-Kriterien vor.
Dieses Ergebnis lässt sich allerdings nicht pauschal auf alle Konstellationen, in denen die Begünstigung durch eine Pflicht zum Erwerb von Dienstleistungen entsteht, übertragen. Es kommen auch solche Konstellationen in Betracht, in denen das entsprechende Gesetz gleichzeitig bestimmte Verpflichtungen des dienstleistenden Unternehmens regelt, worin ein Betrauungsakt zu erkennen sein könnte.
Letztlich müsse aber auch dies das vorlegende Gericht überprüfen.
III. Fazit
Abschließend gelangt der EuGH zu dem Ergebnis, dass Art. 107 Abs. 1 AEUV dahingehend auszulegen sei, dass die streitigen nationalen Maßnahmen eine staatliche Beihilfe darstellen, wenn die noch offenen beihilferechtlichen Voraussetzungen vorliegen. Neben seiner Auseinandersetzung mit den einzelnen Tatbestandsmerkmalen des Art. 107 Abs. 1 AEUV, wie z.B. dem Vorliegen einer staatlichen Maßnahme, scheint insbesondere auch, dass der EuGH der neuen Entscheidungspraxis der EU-Kommission, Handelsbeeinträchtigungen aufgrund rein lokaler Sachverhalte auszuschließen, mit Zurückhaltung gegenübersteht und weiterhin auf seiner Linie der weiten Auslegung des Merkmales der Handelsbeeinträchtigung beharrt.