Keine Anwendbarkeit der Business Judgement Rule bei unternehmerischen Entscheidungen des Insolvenzverwalters
In seinem Urteil vom 12. März 2020 (Aktenzeichen IX ZR 125/17) hat der BGH entschieden, dass sich ein Insolvenzverwalter bei unternehmerischen Entscheidungen im Rahmen der Fortführung eines Geschäftsbetriebs nicht auf die sogenannte Business Judgement Rule berufen kann.
Hintergrund
Gemäß § 60 Abs. 1 S. 1 InsO ist der Insolvenzverwalter den „Beteiligten“, insbesondere also den Gläubigern, zum Schadenersatz verpflichtet, wenn er schuldhaft Pflichten verletzt, die ihm nach den Vorschriften der Insolvenzordnung obliegen. Der Haftungsmaßstab ergibt sich aus § 60 Abs. 1 S. 2 InsO. Hiernach hat der Verwalter „für die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters einzustehen“. Eine Haftung des Insolvenzverwalters nach § 60 InsO kann insbesondere in Betracht kommen, wenn er im Rahmen der Fortführung des Geschäftsbetriebs eines Schuldners unternehmerische Entscheidungen trifft, die sich für die Insolvenzmasse – und damit im Ergebnis für die Gläubiger – als wirtschaftlich nachteilig erweisen. Umstritten und höchstrichterlich bislang nicht geklärt war in diesem Zusammenhang, ob sich ein Insolvenzverwalter bei unternehmerischen Entscheidungen auf die Haftungsprivilegierung nach der sogenannten Business Judgement Rule berufen kann. Letztere ist kodifiziert in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG und besagt, dass ein Vorstandsmitglied einer AG nicht gegen seine Sorgfaltspflicht verstößt und damit auch nicht gegenüber der Gesellschaft haftet, wenn es bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Trotz ihrer Verankerung im Aktiengesetz ist die Business Judgement Rule auch auf Organe von Gesellschaften anderer Rechtsformen anwendbar, etwa auf die Geschäftsführer einer GmbH.
Entscheidung
Der o. g. Entscheidung des BGH liegt (vereinfacht) folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Beklagte war Insolvenzverwalter in dem am 01.10.2003 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin, einer GmbH & Co. KG, deren Geschäftsbetrieb er bis Ende 2004 fortführte. Im August 2007 bestellte das Insolvenzgericht die Klägerin zur Sonderinsolvenzverwalterin zum Zweck der Prüfung und gegebenenfalls Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegen dem Beklagten wegen Pflichtverletzungen im Rahmen der Betriebsfortführung. Die Klägerin beanstandete mehrere von dem Beklagten vorgenommene Maßnahmen sowie aus der Masse vorgenommene Zahlungen, u a. die Zahlung von Beraterhonoraren in Höhe von rund 354.000 Euro, Zahlungen an einen externen Dienstleister für Buchhaltungsdienste in Höhe von rund 140.000 Euro sowie Provisionszahlungen für eine Unternehmensvermittlung und für „Verbandsarbeit“ in jeweils fünfstelliger Höhe. Im Januar 2010 nahm die Klägerin den Beklagten per Mahnbescheid auf Schadenersatz nach § 60 InsO in Höhe von 923.609,46 Euro in Anspruch. In dem anschließenden landgerichtlichen Verfahren reduzierte sie die Inanspruchnahme auf 897.262,18 Euro. Das LG verurteilte den Beklagten antragsgemäß. Auf die Berufung des Beklagten änderte des OLG das Urteil ab und verurteilte den Beklagten zu einer Zahlung in Höhe von 101.038,35 Euro. Die Klägerin und der Beklagte legten Revision bzw. Anschlussrevision ein. Die Revision der Klägerin war überwiegend erfolgreich.
Der Beklagte vertrat in dem gegen ihn gerichteten Haftungsprozess die Auffassung, die von der Klägerin beanstandeten Zahlungen seien nicht pflichtwidrig gewesen. Streitig war in diesem Zusammenhang der Haftungsmaßstab, insbesondere die Frage, ob sich ein Insolvenzverwalter bei unternehmerischen Entscheidungen im Rahmen einer Betriebsfortführung auf die Business Judgement Rule berufen kann. Der BGH führt hierzu aus, die Haftung des Insolvenzverwalters bei unternehmerischen Entscheidungen richte sich ausschließlich nach § 60 InsO. Nach § 60 Abs. 1 S. 1 InsO hafte er, wenn er schuldhaft Pflichten verletzt, die ihm nach den Vorschriften der Insolvenzordnung obliegen. Maßstab aller unternehmerischen Entscheidungen des Insolvenzverwalters im Rahmen einer Betriebsfortführung seien der Insolvenzzweck der bestmöglichen gemeinschaftlichen Befriedigung der Insolvenzgläubiger sowie das von den Gläubigern angestrebte Verfahrensziel (z. B. Abwicklung, Veräußerung oder Sanierung mittels eines Insolvenzplans). Der Insolvenzverwalter habe unternehmerische Entscheidungen daran auszurichten, ob die zu erwartenden Vorteile der beabsichtigten Maßnahme diese in Relation zu den Kosten, Aufwendungen, Chancen und Risiken aus ex-ante-Sicht wirtschaftlich sinnvoll erscheinen lassen. Eine (analoge) Anwendung der Business Judgement Rule auf unternehmerische Entscheidungen des Insolvenzverwalters lehnt der BGH hingegen ab. Es fehle bereits an einer planwidrigen Regelungslücke. Die Haftungsmaßstäbe für den Insolvenzverwalter ergäben sich aus den Bestimmungen der Insolvenzordnung. § 60 Abs. 1 S. 2 InsO eröffne einen ausreichenden Rahmen, um die nicht ausdrücklich geregelten Pflichten und die Sorgfaltsanforderungen eines Insolvenzverwalters bei unternehmerischen Entscheidungen sachgerecht zu bestimmen. Der Insolvenzverwalter habe hiernach für die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters einzustehen. Die insolvenzspezifische Festlegung eines objektiven Mindestmaßstabs ermögliche es, den besonderen Umständen, unter denen der Insolvenzverwalter ein Unternehmen in der Insolvenz des Unternehmensträgers fortzuführen hat, hinreichend Rechnung zu tragen. Hierzu gehöre es, dem Insolvenzverwalter bei unternehmerischen Entscheidungen einen weiten, vom Insolvenzzweck geprägten Ermessensspielraum zuzugestehen. Zudem sei ihm in der Regel eine Einarbeitungszeit zuzubilligen, deren Dauer sich nach Art und Umfang des Verfahrens richte. Die Situation des Insolvenzverwalters sei nicht derart derjenigen des Vorstandsmitglieds einer AG angenähert, dass die Haftung für unternehmerische Entscheidungen eine Erstreckung der Business Judgement Rule auf den Insolvenzverwalter erfordere. Ein wesentlicher Unterschied in der Haftung für unternehmerische Entscheidungen folge aus den Interessen der Beteiligten. Zwar sei sowohl der Insolvenzverwalter als auch der Vorstand einer AG bei der Unternehmensführung fremdnützig tätig. Dies allein genüge jedoch nicht zur Übertragung des hinter der Business Judgement Rule stehenden Rechtsgedankens auf unternehmerische Entscheidungen des Insolvenzverwalters. Vielmehr sei zu berücksichtigen, dass der Insolvenzverwalter im Vergleich zu dem Vorstand einer AG über eine besondere Handlungsmacht verfügt.
Praxishinweis
Die Entscheidung des BGH betrifft die Haftung des Insolvenzverwalter nach § 60 InsO. Kraft der Verweisungen in den §§ 21 Abs. 2 Nr. 1 bzw. 274 InsO gilt die Haftungsnorm des § 60 InsO allerdings auch für den vorläufigen Insolvenzverwalter sowie für den Sachwalter im Eigenverwaltungs- bzw. Schutzschirmverfahren. Damit besteht für die Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters sowie des Sachwalters ebenfalls keine planwidrige Regelungslücke, so wie es der BGH in seiner hier erörterten Entscheidung auch für den Insolvenzverwalter konstatiert hat. Daher dürfte die Entscheidung zumindest auch auf die Haftung des vorläufigen Insolvenzverwalters für unternehmerische Entscheidungen im Rahmen einer Betriebsfortführung im Insolvenzeröffnungsverfahren übertragbar sein, mit der Folge, dass sich auch der vorläufige Insolvenzverwalter nicht auf die Business Judgement Rule berufen kann. Für den Sachwalter ist die Entscheidung jedoch insofern von geringer Relevanz, als im Eigenverwaltungs- bzw. Schutzschirmverfahren die unternehmerischen Entscheidungen im Rahmen der Betriebsfortführung durch die Geschäftsführung bzw. den Vorstand des Schuldnerunternehmens getroffen werden, nicht hingegen durch den Sachwalter.
Für die Haftung des Vorstands bzw. der Geschäftsführung des Schuldners in der Eigenverwaltung sowie im Schutzschirmverfahren geht der BGH (Urt. v. 26.04.2018 – IX ZR 238/17) von einer analogen Anwendung der §§ 60, 61 InsO aus. Eine solche Analogie setzt eine planwidrige Regelungslücke voraus, die der BGH in dem hier erörterten Urteil für die Haftung des Insolvenzverwalters verneint hat, Dies wirft die Frage auf, ob das Urteil auch auf die Geschäftsleitung des Schuldners im Eigenverwaltungs- oder Schutzschirmverfahren anwendbar ist. Für eine Anwendbarkeit der Business Judgement Rule spricht, dass es originäre Aufgabe der Geschäftsleitung ist, den Geschäftsbetrieb des Schuldners (fortzu)führen und im Zuge dessen unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass auch der Geschäftsleitung in der Eigenverwaltung bzw. im Schutzschirmverfahren eine „besondere Handlungsmacht“ zukommt, die der BGH bezogen auf den Insolvenzverwalter als Argument gegen eine Anwendung der Business Judgement Rule angesehen hat. So üben etwa die Geschäftsleiter die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldnerunternehmen aus und verwerten besicherte Gegenstände (§ 282 InsO). Ferner befinden sie über die Erfüllung nicht vollständig abgewickelter Verträge sowie über die Ausübung von Sonderkündigungsrechten (§ 279 InsO iVm §§ 103 ff.). Ferner können sie die Feststellung einer Forderung zur Tabelle durch ihren Widerspruch verhindern (§ 283 I InsO) und entscheiden über die Aufnahme unterbrochener Rechtsstreitigkeiten. Dies spricht letztlich dagegen, die Business Judgement Rule auf unternehmerische Entscheidungen der Geschäftsleitung eines Schuldners in der Eigenverwaltung bzw. im Schutzschirmverfahren anzuwenden. Jedenfalls gilt dies für solche Entscheidungen, die die Geschäftsleitung in Ausübung ihrer oben angesprochenen besonderen Handlungsmacht getroffen hat. Gesteht man indes auch der Geschäftsleitung bei ihren Entscheidungen einen weiten Entscheidungsspielraum zu, so wie es der BGH für unternehmerische Entscheidungen des Insolvenzverwalters zu Recht vertritt, und bedenkt man, dass es für die Frage, ob ein (vorläufiger) Insolvenzverwalter, Sachwalter oder eigenverwaltender Schuldner pflichtwidrig gehandelt hat, auf eine Beurteilung aus ex-ante-Sicht ankommt, dürfte sich die Frage nach der Anwendbarkeit oder Unanwendbarkeit der Business Judgement Rule in vielen Fällen praktisch kaum auswirken.