BGH: Auslistung aus Suchmaschine erfordert umfassende Grundrechtsabwägung
Das „Recht auf Vergessenwerden“ nach Art. 17 der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gehört wohl zu den prominenteren Vorschriften des Datenschutzrechts. Seit seiner Entwicklung in der „Google Spain“-Entscheidung des Europäischen Gerichtshof im Jahr 2014 und der Manifestation in der DSGVO hat es bereits des Öfteren die Gerichte und die Öffentlichkeit beschäftigt. Nun hat sich der BGH erstmals detailliert mit dem Recht auf Vergessenwerden auseinandergesetzt (Urteil vom 27.07.2020, Az.: VI ZR 405/18).
Der Sachverhalt in Kürze
Gegenstand des Verfahrens war die Klage des Geschäftsführers eines regionalen Wohlfahrtsverbandes, welcher Bauprojekte, Betreuungseinrichtungen und Pflege-/ Krankendienste finanziert und organisiert. Im Jahr 2011 geriet der Verband in eine wirtschaftliche Schieflage. Kurz vor Bekanntwerden dieser Tatsache meldete sich der Kläger krank. In der Folge berichtete die regionale Tagespresse, unter Nennung des vollen Namens des Klägers, mehrfach über die wirtschaftliche Situation des Verbandes. In diesem Kontext wurde auch die Krankmeldung des Klägers geschildert, jedoch ohne Erwähnung von Details zur Krankheit selbst.
Die in den Online-Ausgaben der Zeitungen erschienenen Artikel waren über die Suchmaschine „Google“ abrufbar. Der Kläger verlangte zunächst, teilweise erfolgreich, außergerichtlich von der Beklagten, welche die verantwortliche Betreiberin der Suchmaschine in Europa ist, die Löschung der Ergebnislinks. Schließlich machte er die Auslistung diverser Presseberichte aus dem Suchmaschinenindex gerichtlich geltend.
Eine (all-)umfassende Interessenabwägung
Der Kläger blieb mit diesem Begehren auch in dritter Instanz erfolglos. Die Grundrechte des Klägers träten im konkreten Fall hinter denjenigen der Suchmaschinen-Nutzer, der Öffentlichkeit und der Presseorgane zurück. Aufgrund der möglichen Auswirkungen der wirtschaftlichen Situation des Verbandes auf dessen Beschäftigte sowie die Kunden der verschiedenen Einrichtungen und Dienste, bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse an der Berichterstattung. Dieses umfasse auch die namentliche Nennung und die pauschale Erwähnung der Krankmeldung, aufgrund der herausgehobenen Funktion des Klägers als Geschäftsführer des Verbandes.
Zu diesem Ergebnis gelangt der BGH nach Vornahme einer umfassenden Interessenabwägung. Diese sei auf Grundlage aller relevanten Umstände des Einzelfalles und der Rechte und Freiheiten der Beteiligten durchzuführen. Berücksichtigung finden müsse dabei die Schwere des Eingriffs in die Grundrechte des Betroffenen (hier: des Klägers) einerseits, die Grundrechte des Suchmaschinenanbieters (hier: des Beklagten), die Interessen der Nutzer der Suchmaschine und der Öffentlichkeit sowie die Grundrechte der Anbieter der in den beanstandeten Ergebnislinks nachgewiesenen Inhalte andererseits. Letzteres mag zunächst überraschen, da weder die Nutzer der Suchmaschine noch die Inhalteanbieter, also die Presse, welche über den Geschäftsführer berichtete, am Rechtsstreit beteiligt sind. Nach dem BGH ergibt sich dies jedoch konsequent daraus, dass eine Auslistung erheblich in die Rechte der genannten Gruppen einschneide und sie diesen gegenüber deshalb ebenfalls rechtmäßig sein müsse. Da es sich bei der DSGVO um Unionsrecht handelt, sei im Rahmen der Interessenabwägung auf die Grundrecht – und Grundfreiheiten nach der EU-Grundrechtecharta abzustellen, insbesondere dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten, dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit.
Erfreulich für die Betroffenen ist, dass es der BGH für zulässig erachtet, primär den Suchmaschinenbetreiber in Anspruch zu nehmen und nicht zuvor von jedem Presseorgan einzeln die Löschung eines Inhalts verlangen zu müssen. Dies erspart den Betroffenen eine Vielzahl von Verfahren und ermöglicht ein effektiveres gebündeltes Vorgehen.
Praktische Folge: Sisyphusarbeit für Suchmaschinenbetreiber
Auf die Betreiber von Suchmaschinen und vergleichbaren Webinhalte-Indizes im Internet kommt die – nach dieser Entscheidung zumindest nicht einfacher gewordene Aufgabe – zu, vor Ablehnung oder Stattgeben eines Lösch- bzw. Auslistungsbegehrens, die Interessen aller Beteiligten nach dem vom BGH vorgegebenen Maßstab zu überprüfen.
Diesen Maßstab konturiert der BGH im vorliegenden Fall zwar, es bleiben jedoch noch viele Fragen offen. Auch, wenn die Argumentation bezüglich des öffentlichen Interesses an der namentlichen Berichterstattung über den Kläger als Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens in Not in concreto überzeugen mag, lassen sich hieraus kaum verallgemeinerungsfähige Vorgaben ableiten. Die Ausdifferenzierung dieser und weiterer Problematiken bleibt zukünftigen Entscheidungen vorbehalten. Bis dahin bleibt sowohl Betroffenen als auch Betreibern nichts anderes übrig, als eine möglichst umfassende Abwägung der Interessen im Einzelfall vorzunehmen.
Hinweis: Dr. Jan-Peter Ohrtmann, Partner bei PwC Legal und Leiter des globalen Datenschutznetzwerks von PwC Legal, und Carl Christoph Möller, Rechtsanwalt bei PwC Legal, haben für die Fachzeitschrift Datenschutz-Berater eine Urteilsanmerkung verfasst. Den Beitrag können Sie exklusiv bei uns kostenlos unter diesem Link im Volltext abrufen.