Die EU-Verbandsklage: Ein schärferes Schwert für Verbraucher?
Mehr als zweieinhalb Jahre nachdem die Europäische Kommission im April 2018 ihren Vorschlag über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen von Verbrauchern als Teil ihres Verbraucherpaktes, dem sog. „New Deal for Consumers“, vorgelegt hat, hat das Europäische Parlament am 24. November 2020 nunmehr die Richtlinie zur Einführung der Europäischen Verbandsklage angenommen. Die Richtlinie wird am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft treten. Ab Inkrafttreten haben die Mitgliedsstaaten 24 Monate Zeit, um die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen und weitere sechs Monate, um die Vorschriften anzuwenden (Art. 24 Abs. 1 RL). Mit ersten Verbandsklagen gegen Unternehmen auf Grundlage der neu zu schaffenden nationalen Regelungen ist damit spätestens im Jahr 2023 zu rechnen. Mit der Verbandsklage soll es Verbraucherverbänden weit umfangreicher als bislang ermöglicht werden, Verbraucherrechte gegenüber Unternehmen durchzusetzen. Es lohnt daher, sich bereits frühzeitig mit den neuartigen Regelungen vertraut zu machen.
Wer kann klagen?
Zur Erhebung von Verbandsklagen werden nur sogenannte „qualifizierte Einrichtungen“ befugt sein. Bei der Frage, was eine „qualifizierte Einrichtung“ ausmacht, differenziert die Richtlinie zwischen (i) einer innerstaatlichen Verbandsklage, also einer solchen, die von einer qualifizierten Einrichtung in dem Mitgliedstaat erhoben wird, in dem die qualifizierte Einrichtung benannt wurde (Art. 3 Nr. 6 RL), und (ii) einer grenzüberschreitenden Verbandsklage, die von einer qualifizierten Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat als dem erhoben wird, in dem die qualifizierte Einrichtung benannt wurde (Art. 3 Nr. 7 RL).
Während für innerstaatliche Verbandsklagen von den Mitgliedsstaaten eigenständige Kriterien zur Qualifizierung der Einrichtungen aufgestellt werden können, (die insoweit lediglich mit den Zielen der Richtlinie im Einklang stehen müssen, siehe Art. 4 Abs. 4 RL), müssen für die Qualifizierung einer Einrichtung bei der Erhebung einer grenzüberschreitenden Verbandsklage verbindliche Voraussetzungen erfüllt werden. Mit diesen verbindlichen Anforderungen (nur) bei grenzüberschreitenden Klagen, insbesondere die Nichtverfolgung eines Erwerbszecks sowie die Unabhängigkeit der Einrichtung, die hierbei kumulativ erfüllt sein müssen (Art. 4 Abs. 3 RL), hat sich der Rat der Europäischen Union in den Verhandlungen über die Verbandsklage gegen die Befürworter vollharmonisierter Anforderungen an qualifizierte Einrichtungen für sämtliche Verbandsklagen durchgesetzt. Je nach Ausgestaltung innerstaatlicher Verbandsklagen in den einzelnen Mitgliedstaaten kann dies dazu führen, dass sich Unternehmen künftig solchen Klagen vorrangig in Staaten mit geringen Anforderungen an qualifizierte Einrichtungen ausgesetzt sehen.
Bei grenzüberschreitenden Verbandsklagen steht zu erwarten, dass dem beklagten Unternehmen auf der Klägerseite nicht nur ein Kläger, sondern mehrere qualifizierte Einrichtungen aus verschiedenen Mitgliedstaaten gegenüber stehen. Die Mitgliedstaaten müssen diese Möglichkeit vorsehen, um den Kollektivinteressen von Verbrauchern aus verschiedenen Mitgliedstaaten Rechnung zu tragen (Art. 6 Abs. 2 RL).
Welche Verbraucherrechte sollen durchgesetzt werden?
Der sachliche Anwendungsbereich der Richtlinie ist weit gefasst. Nach den Erwägungsgründen der Richtlinie sollen zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus zusätzlich zum allgemeinen Verbraucherrecht auch Bereiche wie Datenschutz, Finanzdienstleistungen, Reiseverkehr und Tourismus, Energie und Telekommunikation sowie Finanz- und Wertpapierdienstleistungen in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Der in Anhang I der Richtlinie näher definierte Anwendungsbereich der Richtlinie greift indes noch weiter. Dort sind insgesamt 66 europäische Richtlinien und Verordnungen ab 1985 aufgeführt, die z.B. auch die Bereiche Arzneimittel, Medizinprodukte und Umwelt betreffen.
Worauf können Verbandsklagen gegen Unternehmen abzielen?
Ausgangspunkt jeder Verbandsklage ist ein Verstoß eines Unternehmens gegen die in Anhang I enthaltenen (Verbraucherschutz-)Vorschriften des Unionsrechts einschließlich ihrer Umsetzung in nationales Recht, der die Kollektivinteressen der Verbraucher beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht (Art. 2 Abs. 1 RL). Die Richtlinie verlangt von den Mitgliedstaaten, dass diese bei Verstößen mindestens Unterlassungsklagen sowie Abhilfeklagen als Verbandsklagen ermöglichen. Abhilfeklagen richten sich auf Abhilfeentscheidungen, durch die der Unternehmer – je nach Fall – verpflichtet werden kann, den betroffenen Verbrauchern Schadenersatz, Reparatur, Ersatzleistung, Preisminderung, Vertragsauflösung oder Erstattung des gezahlten Preises zu leisten (Art. 9 Abs. 1 RL). Die jeweilige Form der Abhilfe muss dem Verbraucher hierbei unmittelbar zugutekommen, einer gesonderten eigenen Individualklage durch den Verbraucher darf es nicht bedürfen (Art. 9 Abs. 6 RL). Neben Leistungsverpflichtungen muss auch die Möglichkeit geschaffen werden, Unternehmen auf Unterlassung (durch einstweilige Verfügung oder Entscheidung in der Hauptsache) in Anspruch zu nehmen, beispielsweise durch Verbote von widerrechtlichen geschäftlichen Praktiken (Art. 8 Abs. 1 RL). Damit geht die Richtlinie weit über die nach nationalem Recht derzeit bestehenden, auf Feststellung bzw. Unterlassung gerichteten Rechtsschutzmöglichkeiten der deutschen Musterfeststellungklage bzw. des UKlaG hinaus. Offen – und bereits Gegenstand juristischer Diskussion – ist, wie diese Kernregelungen in nationales Recht umgesetzt werden soll. Die Richtlinie stellt in Art. 9 Abs. 1 zunächst nur klar, dass die unmittelbare Leistung (i) entweder im Unionsrecht selbst oder (ii) im nationalen Recht auch vorgesehen sein muss (Art. 9 Abs. 1 RL). Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht unmittelbar, auf Abhilfe im Sinne der Richtlinie gerichtete materiellrechtliche Anspruchsgrundlagen erst (neu) zu schaffen, und die Erwägungsgründe stellen umgekehrt sogar klar, dass aufgrund der Richtline dem Unternehmer nach nationalem Recht kein Strafschadenersatz auferlegt können werden soll. Da das deutsche materielle Recht für eine Schadenersatzklage grundsätzlich den Nachweis eines konkreten, individuellen Schadens voraussetzt, müsste bei einer auf Schadenersatz gerichteten Abhilfeklage für den Anspruch eines jeden betroffenen Verbrauchers grundsätzlich isoliert geprüft werden müsste, ob sämtliche tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen. Zur Erinnerung: Der Musterfeststellungklage gegen die Volkswagen AG in Sachen „Dieselgate“, die zugunsten von Käufern von Fahrzeugen des VW-Konzerns erhoben worden war, hatten sich mehr als 400.000 Verbraucher angemeldet. Bei einer Abhilfeklage, die für die einzelnen Verbraucher zu einem Schadenersatzanspruch führen soll, müssten nach derzeitiger Rechtslage für alle betroffenen Verbraucher individuell sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen und möglichen Einwendungen im Einzelfall geprüft werden – eine nicht nur für das Gericht, sondern schon für den klagenden Verband kaum zu bewältigende Aufgabe. Dass dies das durchaus „schärfere Schwert“ der Verbandsklage gleichsam wieder abstumpfen würde, sei es durch Überforderung der Verbände und/oder Gerichte oder durch langwierige Prozesse, liegt auf der Hand. Es bleibt daher abzuwarten, ob der nationale Gesetzgeber hier in materielle Regelungen des deutschen Rechts eingreifen wird, beispielsweise durch Pauschalierungen von Ersatzansprüchen. Zur Beilegung der Rechtsstreitigkeiten eröffnet die Richtlinie auch die Möglichkeiten zur nicht streitigen Beendigung durch Abhilfevergleiche (Art. 11 Abs. 1 RL).
Wer ist von der Entscheidung betroffen? – „Opt-in“ oder “Opt-out“
Nach Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie können die Mitgliedsstaaten jeweils festlegen, auf welche Art und Weise und in welchem Verfahrensstadium die betroffenen Verbraucher ausdrücklich oder stillschweigend ihren Willen äußern können, ob sie von der qualifizierten Einrichtung im Rahmen der Verbandsklage repräsentiert werden und an das Ergebnis gebunden sein wollen. Ob ein zugunsten einer Repräsentation („Opt-in“-Mechanismus) oder umgekehrt ein entgegenstehender Wille geäußert werden muss („Opt-out“-Mechanismus), überlässt die Richtlinie mit Rücksicht auf unterschiedliche Rechtstraditionen den Mitgliedstaaten. Zwingend ist ein „Opt-In“ aber bei Abhilfeklagen für Verbraucher vorzusehen, die ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort nicht in dem Staat haben, vor dessen Gericht/Verwaltungsbehörde die Abhilfeklage erhoben wurde. Eines solchen Mechanismus bedarf es bei auf Unterlassung gerichteten Klagen nach Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie hingegen nicht. Ob der Verbraucher sich also aktiv für die Klage entscheidet, oder nicht, ist hier unerheblich.
Bestehen Schutzmechanismen für missbräuchliche Klagen?
Die Richtline verfolgt neben dem kollektiven Schutz von Verbraucherrechten ausdrücklich auch den Schutz der Unternehmen vor etwaigem Klagemissbrauch, der ihr Tätigwerden am europäischen Binnenmarkt ungerechtfertigt beeinträchtigen könnte. Hierzu gehört neben dem Ausschluss der Geltendmachung von Strafschadenersatz gegen Unternehmen insbesondere die Möglichkeit der Gerichte, offensichtlich unbegründete Klagen in einem möglichst frühen Verfahrensstadium nach dem nationalen Recht abzuweisen (Art. 7 Abs. 7 RL) und den in der Abhilfeentscheidung unterliegenden Parteien die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen (Art. 12 Abs. 1 RL).
Vorlage von Beweismitteln
Für die EU-Verbandsklage hat das nationale Recht die Möglichkeit vorzusehen, unter bestimmten Voraussetzungen eine gerichtliche Anordnung zur Offenlegung von Beweismitteln zu ermöglichen, die sich in der Hand des Gegners oder eines Dritten befinden. Soweit eine qualifizierte Einrichtung alle ihr unter zumutbarem Aufwand zugänglichen Beweismittel, die zur „Stützung“ einer Verbandsklage ausreichen, vorgelegt hat, soll die Möglichkeit bestehen, dass das Gericht auf Antrag hin (und vorbehaltlich der geltenden Vorschriften über Vertraulichkeit und Verhältnismäßigkeit) anordnet, dass zusätzliche Beweismittel vom beklagten Unternehmen oder sogar von einem Dritten offengelegt werden müssen (Art. 18 S. 1 RL). Dem beklagten Unternehmen soll ein spiegelbildliches Antragsrecht für die Vorlage von einschlägigen Beweismitteln durch die qualifizierte Einrichtung oder Dritte zustehen (Art. 18 S. 2 RL). Eine pre-trial discovery nach US-amerikanischem Vorbild wird damit von der Richtlinie nicht verlangt, denn der Verband muss zunächst Klage mit zur Stützung „ausreichenden“ Beweismitteln erheben. Dass ein Gericht sodann auch dem Gegner oder gar einem Dritten die Vorlage von Beweismitteln (insbesondere Urkunden und Gegenstände) auferlegen kann, ist im deutschen Zivilprozess nicht neu (vgl. §§ 142, 144 ZPO).
Ein Schwerpunkt der Dispute Resolution Praxis von PwC Legal ist die Vertretung von Unternehmen bei der Abwehr von Kollektiv- und Massenklagen, wobei auch state-of-the-art Legal Tech-Lösungen zum Einsatz kommen. Insbesondere bei dem noch jungen Instrument des kollektiven Rechtsschutzes im deutschen Recht – der Musterfeststellungsklage – hat das Dispute Team umfangreiche Praxiserfahrungen. Gleiches gilt für die Abwehr von Verbandsklagen nach dem UKlaG. Bislang ist PwC Legal mit der Abwehr von drei Musterfeststellungsklagen mandatiert worden. Außerdem sind die Partner des Dispute Resolution Teams von PwC Legal durch Fachpublikationen zu Fragen des kollektiven Rechtsschutzes hervorgetreten.