Litigation, Arbitration

Der Gesetzesentwurf zu einem Leitentscheidungsverfahren beim Bundesgerichtshof: Beschleunigung von Massenverfahren und Rechtssicherheit?

Verfasst von

Dr. Iwona Grandjean

Stefan Gentzsch, LL.M. (Stellenbosch University)

Zum Problem:

Sogenannte Massenverfahren belasten nicht nur die Ressourcen der Justiz, sondern führen bei einer fehlenden höchstrichterlichen Entscheidung zu Rechtsunsicherheit bei Betroffenen und Rechtsanwendern/Rechtsanwenderinnen. Bei Massenverfahren handelt sich um massenhafte Einzelklagen zur gerichtlichen Geltendmachung gleichgelagerter Ansprüche. Daher stellen sich in den einzelnen Verfahren meist die gleichen entscheidungserheblichen Rechtsfragen. Sind diese Rechtsfragen durch den Bundesgerichtshof (BGH) höchstrichterlich geklärt, können bei den Instanzgerichten rechtshängige Verfahren anhand dieser Leitentscheidung zügig entschieden werden.

In der Vergangenheit wurden solche höchstrichterlichen Entscheidungen jedoch nicht selten verhindert, indem aus prozesstaktischen Gründen die Revision zurückgenommen oder ein Vergleich verhandelt wurde. Diese Problematik soll laut des Referentenentwurfs vom 14. Juni 2023 durch das Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof gelöst werden. Danach soll der BGH auch in Fällen der Revisionsrücknahme oder der sonstigen Erledigung der Revision zentrale Rechtsfragen zügig klären können.

Zu den Zielen:

Das Leitentscheidungsverfahren soll zur frühzeitigen und zügigen höchstrichterlichen Klärung von Rechtsfragen bei Massenverfahren beitragen und damit der effizienten Erledigung von Massenverfahren dienen. Die bei einem Instanzgericht rechtshängigen Verfahren mit gleichgelagertem Sachverhalt sollen nämlich zügiger abgeschlossen werden, wenn das Instanzgericht sich an einer höchstrichterlichen Entscheidung orientieren kann. Zugleich soll für Betroffene und Rechtsanwender/Rechtsanwenderinnen Rechtssicherheit geschaffen werden, die dazu beitragen soll, die Gerichte vor weiteren Klagen zu entlasten. Im Hinblick auf die Entlastung der Gerichte soll auch die Möglichkeit geschaffen werden, das Verfahrens bei den Instanzgerichten bis zur Leitentscheidung auszusetzen.

Zum Referentenentwurf im Einzelnen:

Der Referentenentwurf enthält Änderungen und Ergänzungen der ZPO, durch die das Leitentscheidungsverfahren beim BGH eingeführt wird. Das Leitentscheidungsverfahren erfolgt nach dem Willen des Gesetzgebers in zwei Schritten. Im ersten Schritt kann der BGH ein Revisionsverfahren durch Beschluss zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen (§ 552b ZPO). In einem zweiten Schritt wird der BGH ermächtigt, über die im Beschluss zum Leitentscheidungsverfahren festgelegten Fragen zu entscheiden, obwohl die Revision zurückgenommen wurde oder sich das Revisionsverfahren auf andere Weise als durch Urteil erledigt hat (§ 565 ZPO).

§ 552b ZPO – und damit das Leitentscheidungsverfahren – wird neu eingeführt. Diese Vorschrift soll es dem BGH zukünftig ermöglichen, ein Revisionsverfahren, welches Rechtsfragen aufwirft, deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist, durch Beschluss zum Leitentscheidungsverfahren zu bestimmen. Die Bestimmung kann nach Eingang der Revisionserwiderung oder nach Ablauf der Frist zur Revisionserwiderung erfolgen. Der Beschluss hat eine Darstellung des Sachverhalts und der Rechtsfragen, deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist, zu enthalten.

Der neue § 565 ZPO soll Inhalt und Form der Leitentscheidung selbst regeln. Der BGH soll sich auch dann zu grundsätzlichen Rechtsfragen äußern, wenn (1.) das Revisionsverfahren zum Leitentscheidungsverfahren nach § 552b ZPO bestimmt worden ist und (2.) ein mit inhaltlicher Begründung versehenes Urteil zu der Revision nicht mehr ergehen kann. Nach § 565 Abs. 1 ZPO endet das Leitentscheidungsverfahren durch Beschluss, der ohne mündliche Verhandlung ergeht. Die Leitentscheidung ergeht, wenn die Parteien die Revision zurücknehmen oder sich das Revisionsverfahren auf andere Weise als durch Urteil nach §§ 561 ff. ZPO erledigt. Dieser Beschluss zur Leitentscheidung enthält die Feststellung, dass die Revision beendet ist und eine Leitentscheidung zu den im Beschluss nach § 552b ZPO benannten Rechtsfragen, § 565 Abs. 2 ZPO. Die Leitentscheidung entfaltet keinerlei formale Bindungswirkung und hat auch keine Auswirkungen auf das der Leitentscheidung zugrundeliegende konkrete Revisionsverfahren. Vielmehr dient die Leitentscheidung den Instanzgerichten und der Öffentlichkeit als Orientierung dafür, wie die Revisionsentscheidung gelautet hätte.

Der Beschluss zur Bestimmung eines Leitentscheidungsverfahrens (§ 552b ZPO) ist ebenso wie die Leitentscheidung (§ 565 ZPO) unverzüglich zu veröffentlichen.

Des Weiteren ist eine Erweiterung der Aussetzungsvorschriften in § 148 ZPO vorgesehen. Nach einem neuen Absatz 4 können die Instanzgerichte bei ihnen anhängige Parallelverfahren mit Zustimmung der Parteien während eines Leitentscheidungsverfahrens aussetzen.

Kritik:

Ob das Leitentscheidungsverfahren das Ziel der frühzeitigen höchstrichterlichen Klärung von Rechtsfragen bei Massenverfahren wird erreichen können, muss sich zeigen. Denn eine schnelle Orientierung für die Instanzgerichte kann es nur dann geben, wenn es die entsprechenden Verfahren schaffen, zügig beide Vorinstanzen vollständig zu durchlaufen – was eine nicht unbeachtliche Zeit in Anspruch nimmt. Des Weiteren darf beim zeitlichen Aspekt auch die Bearbeitungszeit bis zur Leitentscheidung beim BGH nicht unberücksichtigt bleiben. Damit dürften die Instanzgerichte ihre Verfahren in neuen Massenverfahren auch weiterhin zunächst ohne Orientierung – zumindest bis zum Beschluss über die Bestimmung zum Leitentscheidungsverfahren – entscheiden. Denn eine Aussetzung vor dem Instanzgericht ist erst während des Leitentscheidungsverfahrens und zudem nur im Einvernehmen beider Parteien möglich. Da die Parteien durch eine Verweigerung ihrer Zustimmung – trotz Leitentscheidungsverfahren – die Aussetzung verhindern können, besteht die Gefahr, dass die Gerichte auch weiterhin in Massenverfahren „vorzeitig“ entscheiden müssen.

Des Weiteren ist nicht auszuschließen, dass die Parteien eine höchstrichterliche Entscheidung aus prozesstaktischen Gründen auch weiterhin verhindern können. Da der BGH erst nach Eingang einer Revisionserwiderung oder nach Ablauf einer zur Revisionserwiderung gesetzten Frist ein Verfahren zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen kann, könnten die Parteien den Beschluss über das Leitentscheidungsverfahren und die anschließende Klärung der Rechtsfragen bis dahin verhindern oder verzögern. Weiterhin bleibt auch die Möglichkeit der Parteien unberührt, bereits in der Vorinstanz den Rechtsstreit z.B. durch Vergleich zu beenden und damit bereits den Weg zum BGH und damit zum Leitentscheidungsverfahren zu sperren.

Das Leitentscheidungsverfahren wurde in der Presse dafür kritisiert, dass es die Dispositionsmaxime des Zivilrechts verkenne (FAZ v. 15. Juni 2023 „BGH-Leitentscheidungen bringen kaum Entlastung“). Denn durch das Verfahren werde den Beteiligten die Möglichkeit entzogen, die grundsätzliche Klärung der durch den BGH ausgewählten Rechtsfragen in Massenverfahren aufzuhalten. Die Revision in Massenverfahren würde damit eine objektive Funktion einnehmen, die im Zivilprozess so nicht vorgesehen sei. So kann zwar das Bundesverfassungsgericht trotz Rücknahme der Verfassungsbeschwerde zur Sache entscheiden, jedoch müsste es im Zivilrecht aufgrund der Privatautonomie der Parteien möglich sein, das Verfahren jederzeit beenden zu können.

In der Presse wird der Referentenentwurf zudem dahingehend kritisiert, dass dieser kein neues Instrument zur Verfügung stelle. Bereits jetzt habe der BGH nämlich die Möglichkeit, ein geeignetes Verfahren für eine (zeitlich) vorrangige Bearbeitung und Entscheidung auszuwählen (FAZ v. 15. Juni 2023 „BGH-Leitentscheidungen bringen kaum Entlastung“). Diese Kritik geht aber fehl. Die Möglichkeit über ein Verfahren zeitlich früher zu entscheiden, setzt nämlich voraus, dass darüber noch entschieden werden kann. Wenn die Revision zurückgenommen wird oder sich die Sachen erledigt, kann der BGH nach bisheriger Rechtslage nicht mehr darüber entscheiden. Und genau hier setzt das Leitentscheidungsverfahren an und bringt insoweit eine Neuerung.

In der Presse wird des Weiteren in Frage gestellt, weshalb § 148 Abs. 4 ZPO neu eingeführt werden müsse. Schließlich bestünde nach § 251 ZPO ebenfalls die Möglichkeit, dass die Parteien das Verfahren einvernehmlich ruhen lassen, um eine höchstrichterliche Leitentscheidung abzuwarten. Die Neueinführung erscheint jedoch sinnvoll, da § 251 ZPO einen Antrag beider Parteien erfordert, wohingegen der Wortlaut des § 148 Abs. 4 ZPO (neu) gerade keinen Parteiantrag voraussetzt und damit das Gericht die Initiative ergreifen kann – wenngleich es in der Entscheidung über die Aussetzung an die einvernehmliche Zustimmung der Parteien gebunden ist.

Fazit:

Wie es der Entwurf bereits formuliert, sieht der Gesetzgeber das Leitentscheidungsverfahren beim BGH als „einen“ Baustein einer effizienten Erledigung von Massenverfahren. Eine Entlastung der Instanzgerichte würde möglicherweise effizienter erreicht, wenn bereits die Instanzgerichte Verfahren zu Leitentscheidungsverfahren bestimmen könnten. In einem solchen Verfahren würden es die entscheidenden Rechtsfragen nämlich zügig zum BGH schaffen.

Das Leitentscheidungsverfahren reiht sich ein in bereits bestehende zivilprozessuale Möglichkeiten bei Massenverfahren wie dem Kapitalanleger-Musterverfahren und der Musterfeststellungsklage. So soll das Kapitalanleger-Musterverfahren geschädigten Anlegern die Durchsetzung ihrer Schadensersatzansprüche wegen falscher, irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformationen erleichtern. Mit Hilfe der Musterfeststellungsklage können qualifizierte Verbraucherverbände gegen Unternehmen klagen. Verbraucher*innen müssen damit nicht selbst klagen, sondern können ihre Ansprüche im Klageregister anmelden. Zur effizienteren Bewältigung von Massenklagen wird möglicherweise auch die beabsichtigte Einführung der Abhilfeklage beitragen.