Zur Rückforderung von rechtswidrigen Beihilfen durch nationale Stellen – Besprechung des EuGH-Urteils vom 7. April 2022 zu den verb. Rs. C-102/21 und C-103/21
Gemäß Art. 17 Abs. 1 Verordnung (EU) 2015/1589 (nachfolgend: Verfahrensverordnung) können Beihilfen innerhalb von zehn Jahren nach ihrer Gewährung von der EU-Kommission zurückgefordert werden. Beihilfen, die länger als zehn Jahre zurückliegen, sind als sog. bestehende Beihilfen der Rückforderung entzogen. Doch wen trifft die Pflicht, die Rückforderung zu verfolgen und kann der Rückforderungsbetrag eigenständig von einer nationalen Stelle beschränkt werden? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein aktuelles Urteil des EuGH und gibt teils überraschende Antworten.
Sachverhalt und Vorlagefragen
In zwei Verfahren war das Verwaltungsgericht der Autonomen Sektion für die Provinz Bozen (Italien) mit Fragen betreffend die Rückforderung von Beihilfen konfrontiert, die es dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegte.
Im Jahr 2018 wurden zwei Eigentümern von Almen in Berggebieten in der Provinz Bozen, die nicht an das öffentliche Stromnetz angeschlossen waren, auf Grundlage einer von der EU-Kommission genehmigten Beihilferegelung Beihilfen in Höhe von 80 % der förderfähigen Kosten für den Bau von kleinen Wasserkraftwerken zur Erzeugung elektrischer Energie gewährt.
Die den Förderungen zugrundeliegende Beihilferegelung war jedoch bereits am 31. Dezember 2016 ausgelaufen, weshalb die Entscheidungen zur Beihilfegewährung in beiden Fällen teilweise widerrufen wurden und die Beihilfen auf einen nach der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (nachfolgend: AGVO) zulässigen Betrag gekürzt wurden. Die den nach der AGVO zulässigen Betrag übersteigenden Beihilfen wurden daraufhin durch die nationale Stelle von den Beihilfenempfängern zurückgefordert. Hiergegen erhoben beide Beihilfeempfänger Klage auf Aufhebung.
Insgesamt wurden dem EuGH von dem Bozener Gericht drei Vorlagefragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Von besonderer Bedeutung und daher alleiniger Gegenstand dieses Beitrags ist die zweite Vorlagefrage, die sich darauf bezieht, ob Art. 20 der Verfahrensverordnung dahingehend auszulegen ist, dass bei missbräuchlicher Anwendung von Beihilfen im Sinne des Artikel 1 Buchstabe g) der Verfahrensverordnung die EU-Kommission eine Rückforderungsentscheidung erlassen muss, bevor die staatlichen Behörden einschreiten können.
Entscheidung des EuGH
Im Hinblick auf die zweite Vorlagefrage führte der EuGH zunächst aus, dass individuelle Beihilfen, die nach Ablauf der Genehmigung der EU-Kommission auf Basis einer Beihilferegelung gewährt werden, keine missbräuchliche Anwendung von Beihilfen im Sinne von Art. 1 Buchstabe g) der Verfahrensverordnung darstellen. Eine missbräuchliche Anwendung sei nur dann anzunehmen, wenn der Empfänger einer Beihilfe die Beihilfe unter Verstoß gegen den Genehmigungsbeschluss der EU-Kommission verwendet.
Im vorliegenden Fall nahm der EuGH daher eine rechtswidrige Beihilfe im Sinne von Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV an, da ein Verstoß gegen das dort geregelte Durchführungsverbot vorlag. In diesem Zusammenhang stellte der EuGH zudem klar, dass dies auch dann gelten würde, wenn die Beihilferegelung verlängert worden wäre, da mit der Verlängerung einer bestehenden Beihilferegelung stets eine neue Beihilfe eingeführt wird. Da der EuGH somit statt von einer missbräuchlichen Anwendung einer Beihilfe von einer rechtswidrigen Beihilfe ausging, wurde die zweite Vorlagefrage im Hinblick auf die Pflichten der Mitgliedstaaten im Umgang mit rechtswidrigen Beihilfen umformuliert.
Dabei betonte der EuGH zunächst die Grundsätze aus der Rechtssache Eesti Pagar (C-349/17 vom 05. März 2019). Hieraus gehe hervor, dass das Durchführungsverbot des Art. 108 Abs. 3 S. 3 AEUV unmittelbare Wirkung hat. Demnach müssten nationale Gerichte nach ihrem nationalen Recht sicherstellen, dass sämtliche Konsequenzen aus einer Verletzung des Durchführungsverbots gezogen werden und es sei ihre Aufgabe Maßnahmen anzuordnen, die geeignet sind, der Rechtswidrigkeit der Durchführung von Beihilfen abzuhelfen. Unmittelbar anwendbare Vorschriften des Unionsrechts seien aber ebenso von allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten zu beachten, sodass sowohl die nationalen Gerichte als auch die Verwaltungsbehörden im Rahmen ihrer Zuständigkeiten gehalten sind, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen.
Aus diesen Grundsätzen schlussfolgerte der EuGH, dass es einer nationalen Stelle obliegt, aus eigener Initiative rechtswidrige Beihilfen zurückzufordern und stellte zudem fest, dass die nationalen Stellen dabei grundsätzlich auch nicht daran gehindert sind, lediglich einen Teil der Beihilfe zurückzufordern. Hiermit öffnete der EuGH ausdrücklich die Möglichkeit für nationale Stellen, die Rückforderung einer Beihilfe auf den Betrag zu beschränken, der nicht von der AGVO gedeckt ist. Da dies bisher nicht abschließend geklärt war, dürften sich insoweit erhebliche Auswirkungen für die Praxis ergeben.
Der EuGH stellt zudem klar, dass die nationalen Gerichte und die EU-Kommission im Hinblick auf die Rückforderung von Beihilfen einander ergänzende, aber unterschiedliche Rollen ausüben. So könne die EU-Kommission die Rückforderung einer Beihilfe nicht allein wegen ihrer rein formellen Rechtswidrigkeit anordnen, sondern müsse die Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt stets vollständig prüfen (materielle Rechtswidrigkeit), unabhängig von der Frage, ob das Durchführungsverbot eingehalten wurde.
Im Ergebnis kommt der EuGH zu dem Schluss, dass es nicht die Aufgabe der EU-Kommission ist, den Mitgliedstaat aufzufordern, eine rechtswidrige Beihilfe zurückzufordern. Dies kann und muss der Mitgliedstaat aus eigener Initiative tun und hat dabei grundsätzlich auch die Möglichkeit, den zurückzufordernden Betrag in Anwendung der AGVO zu begrenzen.
Auswirkungen auf die Praxis
Das Urteil ist eine Erweiterung der Rechtsprechung in der Rechtssache Eesti Pagar. Es schafft erneute Rechtsklarheit in der Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der EU-Kommission und den nationalen Stellen im Hinblick auf die Rückforderung rechtswidriger Beihilfen. Dabei wird auch der Umfang der Zuständigkeit der nationalen Stellen konkretisiert.
Für die Praxis dürfte insbesondere die Öffnung der Möglichkeit, die Rückforderung einer Beihilfe auf den nicht von der AGVO gedeckten Teil zu beschränken, erhebliche Bedeutung haben und wirft dabei gleichzeitig weitere Fragen auf. Insbesondere äußert sich der EuGH nicht dazu, in welchem Zeitpunkt die Voraussetzungen der AGVO erfüllt sein müssen. Dies könnte der Zeitpunkt der Gewährung der Beihilfe oder der der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beihilfe sein. Insoweit wäre eine weitere Klarstellung wünschenswert und bleibt für eine rechtssichere Anwendung in der Praxis abzuwarten.